O albanische Nation – erwache zu deiner Seele!

Kurt Gostentschnigg

O albanische Nation – erwache zu deiner Seele!

Während der Begriff „Nation“ im Allgemeinen von allen gleich verstanden wird, so sind sich die Menschen über den Begriff „Seele“ nicht einig. Um in der Folge nicht allzu sehr missverstanden zu werden, wollen wir zunächst in einem kurzen philosophischen Exkurs das hier zur Anwendung kommende Verständnis von „Seele“ erläutern, bevor wir zum eigentlichen Thema kommen. Nachdem wir nur Platz für einen Artikel und nicht für ein Buch oder eine Enzyklopädie haben, möge der Leser uns verzeihen, wenn wir nicht auf die unzähligen Details eingehen und plakativ wirken mögen bei einem Thema, das Gott und die Welt zu behandeln beansprucht. Sollte sich der interessierte und suchende Leser überfordert fühlen, so können wir ihm nur raten, sich intellektuell-spirituell in das reichhaltige diesbezügliche Werk von Sri Aurobindo zu vertiefen und sich mystisch-spirituell in sein Innerstes zu wenden, wo seine Seele und das Göttliche darauf warten, von ihm entdeckt zu werden.

Wenn ein Nichts der Ursprung und das Ziel ist, dann ist das Leben sinnlos, ein Traum, eine Illusion. Oder nicht einmal das. Wenn ein Etwas der Ursprung und das Ziel ist, dann hat das Leben einen Sinn, ist es Wirklichkeit. Aber wie wissen wir, dass wir wirklich existieren? Weil wir uns unserer Existenz bewusst sind. Bewusstsein ist Sein. Und wie können wir dieses Bewusstsein ausdrücken und wirksam machen? Durch die Kraft des Bewusstseins. Aber warum gibt es uns? Warum sind wir uns des Seins bewusst? Warum drücken wir uns aus und wirken? Um glücklich oder unglücklich zu sein? Wohl, um glücklich zu sein. Damit haben wir die vier allerersten Attribute des eigentlich unaussprechlichen und undenkbaren Etwas ausgemacht, das wir das Göttliche oder das Selbst nennen wollen: Sein, Bewusstsein, Bewusstseinskraft und Glückseligkeit.

Gemäß spirituellen und mystischen Erfahrungen werden dem Göttlichen weitere Attribute wie Unendlichkeit und Ewigkeit zugesprochen. Es ist der Eine und die ihm innewohnenden Vielen. Seine raum- und zeitlose Einheit und Vielheit offenbaren sich in Raum und Zeit durch Universalität, Kollektivität und Individualität. Somit ist es sowohl transzendentes, suprakosmisches, raum- und zeitloses Sein als auch immanentes, kosmisches, räumliches und zeitliches Werden. Es ist Personalität und Apersonalität, beides transzendent und immanent erfahrbar als die zwei Seiten ein und derselben Medaille, wie zwei parallele Linien, die sich im Unendlichen treffen. Es ist Energiequelle und Energie, sowohl im Sein als auch im Werden.

Die Vielheit des Seins stellt die Seelen als ihre Vertreter im Werden heraus. Die Seele ist daher in ihrer Essenz unsterblich, ewig, ohne Anfang und Ende, unerschaffen. Jedem Individuum, jedem Menschen, jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Kollektiv, jeder Nation, der ganzen Menschheit wohnt eine Seele inne. Das Mental, das Vital und der Körper sind die natürlichen Instrumente der Seele für ihre von Geburt zu Geburt erfolgende individuelle und kollektive Entfaltung in Zeit und Raum, für das Wachsen ihres Seelischen Wesens, das von seinem inneren und äußeren Wesen eingehüllt ist, bis es in den Vordergrund tritt und die Führung über seine instrumentale Natur übernimmt.

Wenn wir uns die heutige Schöpfung und die bisherige Schöpfungsgeschichte anschauen, dann hat es offensichtlich einen tiefen, involutionären Fall eines Teils der Vielen bis in die Unbewusstheit gegeben, der alle Welten mit ihren Wesen und Kräften geschaffen hat, sodass wir uns nun inmitten eines mühsamen Evolutionsprozesses in der Materie zurück in die absolute Bewusstheit befinden. Eine der brennendsten Fragen der Philosophie und Theologie ist, warum es diesen Fall aus der Vollkommenheit und dem Wissen in die Unvollkommenheit und Unwissenheit gegeben hat. Darauf kann es nur eine Antwort geben: die absolute Freiheit der Vielen. Ein Teil von ihnen wollte die Erfahrung der Gott- und Selbstvergessenheit und der damit verbundenen Bewusstwerdung über Gott und sich selbst machen.

Die Spiritualität, im Osten als Yoga bezeichnet, kennt viele Wege zur Wiedervereinigung mit dem Göttlichen. Die drei grundsätzlichen Wege sind das Denken, das Fühlen und das Handeln. Der Weg des Denkens ist der lange, schwierige Weg der Erkenntnis und des Wissens in die unpersönliche Transzendenz des Göttlichen, der die Gefahr der Lebensverneinung in sich birgt. Der Weg des Fühlens ist der kurze, leichte Weg der Hingabe und der Liebe in die persönliche Transzendenz des Göttlichen, der das Leben bejaht. Er mündet in den dritten Weg des Handelns, auf dem alles Tun und alle Früchte des Tuns dem Göttlichen geweiht werden.

Wenn das suprakosmische Göttliche unendlich ist, dann ist auch die kosmische Manifestation seines Bewusstseins unendlich, dann muss es über dem Mental des Verstands und der Vernunft noch höhere Bewusstseinsstufen geben, die im Laufe der Evolution in der Materie manifestiert werden und schrittweise zum Einheitsbewusstsein hinführen. So stehen wir heute offensichtlich vor der individuellen und kollektiven Verwirklichung eines höheren, erleuchteten und intuitiven Mentals. Wenn man aber durch Hingabe und Gnade seiner göttlichen Seele mehr und mehr bewusst wird und die Bewusstseinsstufen bis zur Ebene der die göttliche Wahrheit direkt schauenden Intuition hinaufsteigt, wozu braucht man dann noch kollektive Religionen als Vermittlerinstanz? Ist nicht jede individuelle Beziehung zwischen Seele und Göttlichem die wahre Religion?

Nun können wir zum eigentlichen Thema kommen. Bezüglich der natürlichen Instrumente der Seele gibt es einen Unterschied zwischen dem Norden und Süden Europas, wobei der Übergang fließend ist und eine strikte Grenze sich nicht ausmachen lässt: Im Norden dominieren Mental, Intellekt, Verstand und Vernunft, im Süden Emotion, Gefühl, Kraft und Impuls. Beide, Norden und Süden, können voneinander lernen und profitieren. Letztendlich müssen aber beide, sowohl Vernunft als auch Gefühl, in das von der Seele herausgestellte und sich von Geburt zu Geburt entwickelnde Seelische Wesen transzendiert werden, dessen schlussendliches Hervortreten aus dem Hintergrund die bisherige Versklavung des Ichs durch die instrumentale Natur beenden und die Herrschaft über seine eigene Energie übernehmen wird.

Die Albaner, die tendenziell gefühlsbetont sind und mehr im Herzen leben, sind ihrer Seele, die ihren geheimen Sitz hinter dem Herzen hat, daher näher als die meisten Europäer, die tendenziell dem Mental, Intellekt und der Vernunft verhaftet sind und mehr im Kopf leben. Aber was wollen die Albaner der Welt bieten? Korruption, Machtbesessenheit, Uneinigkeit, Prostitution, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel, Umweltzerstörung, Turbokapitalismus und Konsumabhängigkeit? Oder ihre von Herz und Seele geleitete Vitalität zum Wohle der eigenen Nation und der gesamten Menschheit? Jede Nation hat die Wahl, welche Rolle sie in der Welt spielen will. So wie die indische Nation im Falle ihres endlichen Erwachens zu ihrem wahren Selbst die spirituelle Führungsrolle in der Welt übernehmen kann, so kann die albanische Nation, sobald sie sich nicht mehr mit ihrem instrumentalen Vital und Mental identifiziert und zu ihrer wesenhaften Seele erwacht, die spirituelle Führungsrolle in Europa übernehmen.

Viele von denen, die das jetzt lesen, werden sich vielleicht fragen, wie eine so kleine Nation einen ganzen Kontinent führen können soll. Es geht hier aber nicht um eine quantitative, sondern um eine qualitative Größe. Wer sonst wäre dazu in der Lage? Gibt es denn eine Nation in Europa, die bereits zu ihrer Seele erwacht ist? Deutschland oder Frankreich, die noch immer den bereits abdankenden mentalen Gott der aufklärerischen Vernunft anbeten und das Leben und die Seele der europäischen Nationen mit der bürokratischen Keule des Zentralismus erschlagen und mit dem süß giftigen Dolch des Konzernkapitalismus erstechen wollen? Italien, Polen oder Ungarn, die schon wieder den vitalen Gott des nietzscheanischen Willens zur Macht anbeten und die nationalistischen, kriegstreiberischen Geister des kollektiven Egos wiedererwecken wollen? Oder der immer weiter nach Europa infiltrierende militante Islamismus mit seinem die persönliche Freiheit verneinenden Ideal der Errichtung eines Gottesstaats im Sinne der gewaltsamen mittelalterlichen Bekehrung der Ungläubigen zum vermeintlich einzig wahren Glauben? Diese drei ausgedienten Ideologien der Vergangenheit sollen heute das Patentrezept für die Findung eines Auswegs aus den zahlreichen komplexen lebensbedrohenden Problemlagen der Menschheit und für den Aufbruch in ein neues Zeitalter von noch ungeahnten Möglichkeiten für Individuum und Kollektiv im wachsenden Bewusstsein der Einheit in der Vielfalt sein? Ich denke, ein wenig Hausverstand reicht aus, um diese Frage beantworten zu können.

Wenn man die Geschichte der Inder und Albaner vergleicht, so entdeckt man einige interessante Parallelen, die hier nur kurz angedeutet werden können. Sowohl Indien als auch Albanien haben eine jahrhundertelange koloniale Vergangenheit. Weder Indien noch Albanien haben jemals ein anderes Land angegriffen. In beiden Ländern untergraben Turbokapitalismus, Korruption, Brain-Drain und der aus dem Westen importierte Materialismus ohne spirituelle Basis das nationale Leben. Ibrahim Rugovas Gandhismus in Kosova führte in die Sackgasse, weil die Serben keine Briten sind, die sich an das Fair Play halten. Die Befreiungsarmee von Kosova (UÇK) war der Ausweg aus dieser Sackgasse, der Weg des unvermeidlichen Kampfes, wie er in der Bhagavad Gita, dem heiligen Buch der Hindus, aufgezeigt wird. Die Vergeltungsaktionen von UÇK-Kämpfern gegen Serben und Roma nach dem Krieg bedeuteten allerdings das Verlassen des Pfads des legitimen Kampfes um Freiheit und Unabhängigkeit. Der Hinduismus ist eine unorganisierte Religion der Vielfalt in der Einheit und hat daher 5000 Jahre überlebt. Der indische Mystiker Sri Ramakrishna des 19. Jahrhunderts probierte alle drei großen Weltreligionen – Hinduismus, Christentum und Islam – aus und fand auf allen drei Wegen Gott. Auch Albanien ist ein Beispiel der jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz von Katholiken, Muslimen, Orthodoxen und Bektaschi.

So wie die Inder müssen auch die Albaner noch ihr eigenes Dharma, d. h. ihre eigene innere Bestimmung finden. Dabei ist vor allem die spirituelle Avantgarde aller Konfessionen und erleuchteten Individuen zur Schaffung von Lichtzentren der kollektiven Bewusstseinsentwicklung gefragt, so wie einst die in der mystischen Tradition des Sufismus stehenden Bektaschi um die Frashëri-Brüder die Vorreiterrolle für die Rilindja, die albanische Nationalbewegung, übernommen haben. Die junge albanische Nation zeichnet sich durch eine große Vitalität aus. Aber erst, wenn sie diese kostbare Lebenskraft nicht mehr in den Dienst des kollektiven Egos stellt, sondern um das noch zu entdeckende kollektive Seelische Wesen zentriert, kann sie ihre eingeborene und unverwechselbare Rolle für die spirituelle Vereinigung Europas und der Welt spielen.

Albanien und Indien verbindet auch die Tatsache der Teilung der Nation. Was die jeweilige Motivation betrifft, gibt es dabei einen fundamentalen Unterschied: die indische Teilung erfolgte von innen aufgrund des Gegensatzes zwischen Hindus und Muslimen; die albanische Teilung erfolgte von außen aufgrund der Abstimmung der Großmachtinteressen. Pakistan und Bangladesch, das ehemalige Ostpakistan, sind innerlich mit der indischen Seele verbunden, daher wird es früher oder später zu ihrer Wiedervereinigung mit Mutter Indien kommen. Jeder Patriot fühlt die Seele hinter seiner Nation, seinem Land. Man kann diese Kollektive Seele wahrnehmen, aber nicht definieren, weil sie jenseits des Mentals liegt. Wenn die Kollektivseele im Inneren existiert, dann sucht sie sich einen Weg der Manifestation im Äußeren. Daher ist die zukünftige Entwicklung der Albanischen Frage noch offen: werden wir nach zwei bis drei Generationen eine einzige albanische oder eine albanische und eine kosovarische Nation haben? Falls hinter den Kosovaren schon eine Kollektivseele zur Manifestation bereitsteht, werden wir in einigen Jahrzehnten zwei albanischsprachige Nationen haben, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich der Fall gewesen ist. Falls Kosova innerlich mit der albanischen Seele verbunden bleibt, wird es auch da früher oder später zur Wiedervereinigung mit Mutter Albanien kommen. Das Gleiche gilt für die restlichen mehrheitlich von Albanern besiedelten Gebiete, welche an Albanien und Kosova angrenzen. Wenn es eine Seele gibt, individuell und kollektiv, wovon hier ausgegangen wird, dann tritt sie eines Tages hervor und nimmt die Zügel in die Hand. Dann ist es nur mehr eine Frage der Zeit, von Jahrzehnten oder Jahrhunderten, bis sich äußerlich – auf welche Art und Weise auch immer – zusammenfindet, was innerlich seit jeher verbunden ist.

Bevor das Neue endgültig hervortritt, bäumt sich das Alte noch einmal in voller Größe auf, obwohl es weiß, dass seine letzte Stunde geschlagen hat. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wie lange es dauern und auf welche Weise es geschehen wird, hängt auch von unseren individuellen und kollektiven Entscheidungen ab, und zwar in jedem Augenblick, in dem wir unsere Zukunft durch unser Denken, Fühlen und Handeln miterschaffen. Die große Frage, die wir uns alle individuell und kollektiv stellen und beantworten müssen, ist, ob wir weiterhin in der ängstlichen und schmerzvollen Sterblichkeit des Egos der Trennung oder endlich in der tapferen und glückseligen Unsterblichkeit des Selbst der Einheit leben wollen. In welchem Fall sind die Chancen des Überlebens und die Möglichkeiten der Entfaltung von Individuum und Kollektiv größer? Wir kennen die Antwort auf diese Frage.

Und warum richten wir dann nicht unser ganzes Denken, Fühlen und Handeln danach aus, damit es eines Tages – besser früher als später – Wirklichkeit wird? Das hat mit einem zweifachen Widerstand zu tun: dem Widerstand unserer eigenen niederen Natur aus Mental, Vital und Körper und dem Widerstand der feindlichen Kräfte um uns herum. Das Individuum muss dem Kollektiv vorangehen, indem es einen Prozess der inneren Reinigung und Beruhigung, der Zurückweisung aller antigöttlichen Einflüsse und der Öffnung gegenüber dem göttlichen Einfluss beginnt, bis dieses spirituelle Streben das eigene Seelenwesen aus dem Hintergrund hervortreten lässt und die göttliche Gnade die von uns selbst nicht leistbare schrittweise Umwandlung unserer niederen, menschlichen Natur in die höhere, göttliche Natur bewirken kann.

Was für das Individuum gilt, gilt auch für das Kollektiv; was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Nation und die ganze Menschheit. Wenn sich genügend Individuen dieser Transformation öffnen, wird das Kollektiv früher oder später nachfolgen. Alle Menschen mit gutem Willen, mit Herz und Seele, die spirituelle, intellektuelle und wissenschaftliche Elite des Landes, die Jugend, die Schüler und Studenten, die Hoffnung für unsere Zukunft, sind aufgerufen, bewusst an diesem Umwandlungsprozess zum Wohle des Individuums, der Nation, der Menschheit und des Planeten teilzunehmen. O albanische Nation – erwache zu deiner Seele!

 

 Veröffentlicht in:

Die Sonne 10 (2019), Nr. 39, S. 8-10. http://www.dielli-demokristian.at/de/ausgaben.html

 

 

 

 

 

 

 

 


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