Die Nation als Kollektive Seele

 Kurt Gostentschnigg

 

Die Nation als Kollektive Seele.

Der Beginn eines Vergleichs der Albanischen Frage mit der Indischen Frage im Lichte des Integralen Yogas von Sri Aurobindo

 

Dieser Aufsatz behandelt die Frage der Nation erstmals aus einer spirituellen Perspektive, nämlich im Lichte des Integralen Yogas des indischen Mystikers und Philosophen Sri Aurobindo, und versucht einen Vergleich der Albanischen Frage mit der Indischen Frage. Es handelt sich hier um eine skizzenhafte Herausarbeitung von ausgewählten Aspekten, nachdem die Erforschung der komplexen Ausprägung der raumzeitlichen Manifestation einer nationalen Kollektivseele in all ihren vielfältigen Facetten nur durch eine Synthese von zahlreichen langfristigen Detailstudien erfolgen kann. Zunächst wird eine kurze Einführung in die akademische Nationsforschung und das Konzept des Kollektivs geboten, bevor die für unser Thema relevanten Inhalte von Sri Aurobindos Integralem Yoga in zusammengefasster Form vorgestellt werden.

Die geschichtswissenschaftliche Fachliteratur zur Frage der Entstehung von Nationen ist äußerst reichhaltig.[1] Da es dabei um das Selbstverständnis der Menschen geht, hat der Begriff der Nation von vornherein einen subjektiven Charakter. Er geht auf lat. natio in der Bedeutung „Volk, Sippschaft, Menschenschlag, Gattung, Klasse, Schar“ zurück, welches sich vom Verb nasci in der Bedeutung „geboren werden“ ableitet, und bezeichnet größere Gruppen oder Kollektive von Menschen, denen gemeinsame Merkmale wie SpracheTraditionSittenBräuche, gemeinsamer Siedlungsraum oder gemeinsame Abstammung zugeschrieben werden. Die Geschichtswissenschaft, die Nation von Volk und Staatswesen unterscheidet, bezeichnet die zugeschriebenen kulturellen Eigenschaften als den Nationalcharakter eines Volkes. Nation ist für sie ein Konstrukt, das von seiner diskursiven Reproduktion und materiellen Effizienz lebe. Indem Menschen sich handelnd auf das Konzept der Nation beziehen, werde es für die Beteiligten und Betroffenen wirksam. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen drei Nationstypen: Kulturnation, Staatsnation und Willensnation. Die Kulturnation ist eine ethnische Nation bzw. eine Gemeinschaft von Menschen, die sich durch Sprache, Tradition und Religion miteinander verbunden fühlen. Ihr Nationalgefühl beruht also auf einer gemeinsamen Kultur, oft auch auf einer gemeinsamen Abstammung, und ist nicht auf staatliche Grenzen angewiesen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Kulturnation kann zeitlich der Gründung eines Nationalstaats vorausgehen. Beispiele dafür sind Italien und Deutschland. Die Staatsnation hingegen beruht auf dem Willen der Staatsbürger und deren gemeinsamen politischen Werten. Als Musterbeispiel dafür gilt Frankreich, dessen Nation nach der Französischen Revolution aus einer ethnisch sehr heterogenen Bevölkerung entstanden ist, welche ihr Gemeinschaftsgefühl durch das gemeinsame Bekenntnis zu den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fand. Nicht so leicht vom Konzept der Staatsnation zu unterscheiden ist der Begriff der Willensnation, welche aus Bevölkerungsgruppen besteht, die sich ethnisch, sprachlich, religiös und aufgrund ihrer Mentalität oder historischen Erfahrung mehr oder weniger stark unterscheiden. Der von ihr errichtete Staat ist nicht durch ethnische Gemeinsamkeit ihrer Bürger geprägt, sondern allein durch den Willen der Bürger nach einem gemeinsamen Staatswesen. Beispiele dafür sind die Schweiz, die USA und Kanada.

Aber ist das wirklich alles, was ein so großes Kollektiv wie eine Nation ausmacht und – ungeachtet aller Krisen, Katastrophen und Schicksalsschläge – über lange Zeiträume zusammenhält? Der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung führte im Westen den Begriff des „kollektiven Unbewussten“[2] ein, das eine allen Menschen gemeinsame Grundlage psychischer Funktionen bilde. Selbst die Strukturen des Ich würden sich demnach auf der Basis von Strukturen des kollektiven Unbewussten entwickeln. Jung beruft sich vor allem auf archetypische Bilder in Vorstellungen, Emotionen und Träumen und auf Motive in Religionen, Mythen und Märchen, welche auf eine ähnliche psychische Grundlage aller Menschen schließen ließen. Der deutsche Publizist Wolfgang J. Aurose ist einer der seltenen westlichen Autoren, der von einer „Seele der Nation“ spricht, indem er sich nicht nur auf die deutschen Idealisten und Romantiker beruft, sondern auch auf Jung und integrale Vordenker wie Sri Aurobindo, Jean Gebser und Ken Wilber.[3] An den Fallbeispielen Deutschland, USA und EU versucht er, die Evolution von Nationen als Kollektivseelen aufzuzeigen und Modelle zur seelischen Integration und Heilung eines Landes vorzustellen. Trotz der Fülle an interessanten Detailinformationen ist es eine im Allgemeinen zu komplizierte Abhandlung, die sich auf verschiedene psychologische und philosophische Systeme sowie spirituelle Richtungen stützt, deren unterschiedliche Definitionen und Terminologien beim Leser Missverständnis und Verwirrung verursachen können.

Ken Wilber und andere Protagonisten des integralen Denkens haben längst die wissenschaftliche Nachweisbarkeit mystischer/yogischer bzw. seelisch-spiritueller Erfahrungen intellektuell nachvollziehbar argumentiert, indem sie die in allen Kulturen, Zeiten und Umständen existierenden Gemeinsamkeiten solcher innersten Erfahrungen aufgezeigt haben.[4] Wenn du dich selbst erkennst, erkennst du die Welt und Gott, weil du selbst die Welt und Gott bist. Das ist die gemeinsame Essenz der westlichen Mystik und des östlichen Yogas. Eines muss jedoch klar sein: Mystik oder Yoga ist kein objektives Feld für intellektuelle Argumentation oder wissenschaftliche Erklärbarkeit. Yoga bedeutet subjektive Erfahrung und Wandel im Bewusstsein. Eine rein mentale Aktivität führt nur zu einem Wandel des Verstands. Und der Verstand ist nur eine untere Stufe der unendlichen Stufenleiter des Bewusstseins. Wenn man aber selbst noch keine spirituellen Erfahrungen hat, ist das kein plausibler Grund, die Möglichkeit und den Wert von spirituellen Erfahrungen anderer Menschen nicht in Betracht zu ziehen.

Alle spirituellen/mystischen/yogischen Erfahrungen kommen zu dem gleichen grundlegenden Ergebnis: das höchste, tiefste, ewige und unendliche Geheimnis ist die Liebe. Dieses undenkbare und unaussprechliche Geheimnis kann man höchstens symbolisch ausdrücken, wie durch das Sinnbild Viel-Eine Sonne der Liebe, d. h. viele Sonnen in der einen Sonne der Liebe. Die Liebe ist das Göttliche Wesen, Gott, die Einheit. Die Einheit enthält die Vielheit. Daher können wir vom Göttlichen als der Eine und die Vielen sprechen. Die Einheit enthält auch das Sein und das Werden. Die Vielheit wiederum enthält das Individuelle und das Kollektive. Die Einheit ist also in ihren vier Grundaspekten Sein, Werden, Individuum und Kollektiv. Die Einheit ist die Basis der Vielheit und somit das Höhere und die Ursache und das Ziel von allem. Der Eine und die Vielen entfalten als Kosmische Seele sowie Individuelle und Kollektive Seelen die unendlichen Möglichkeiten des suprakosmisch-transzendenten Seins im kosmisch-immanenten Werden. Auf den Ebenen des zeit- und raumlosen Seins sind wir immer im Bewusstsein der Einheit. Auf den Ebenen des raumzeitlichen Werdens werden wir uns schrittweise unserer verlorenen Einheit bewusst. Warum gibt es überhaupt ein Werden, eine Evolution, eine Entwicklung in Raum und Zeit? Weil sich einige der Vielen in ihrer Freiheit der unendlichen Möglichkeiten aus dem zeit- und raumlosen Sein in die Erfahrung der räumlichen und zeitlichen Trennung bis in die Unbewusstheit gestürzt haben und die Göttliche Mutter ihnen hinterhergeeilt ist, um durch die göttliche Allgegenwart den Wiederaufstieg der verkörperten Seelen und der gesamten materiellen Schöpfung bis zum höchsten Bewusstsein zu ermöglichen.[5] Und warum steigt das Göttliche selbst als Avatar in einer physischen Verkörperung zu uns Menschen herab? Um der Menschheit in Zeiten des schwierigen Übergangs und der allgemeinen Krise zu helfen und den Weg für den Sprung des menschlichen Bewusstseins auf die nächsthöhere Stufe der spirituellen Evolution zu öffnen.

Der von Sri Aurobindo und Mira Alfassa, genannt Die Mutter, auf der Basis ihrer eigenen spirituellen Erfahrungen entwickelte Integrale Yoga[6] zur Verwirklichung des Göttlichen Lebens auf Erden bietet dem Leser nicht nur eine nachvollziehbare Anleitung zur Beschreitung dieses spirituellen Pfades, sondern auch ein allumfassendes philosophisches System mit der größten Vision und reichhaltigsten Terminologie. Je nach Stand der Bewusstseinsentwicklung erkennt der Leser Sri Aurobindo und Die Mutter als Philosophen, Yogis/MystikerInnen oder der Zwei-Eine Avatar[7]/Inkarnationen des Göttlichen auf Erden. Alle traditionellen Yoga-Wege wie Bhakti-Yoga, der Weg des Herzens, Jnana-Yoga, der Weg des Wissens, und Karma-Yoga, der Weg des Handelns, bleiben bei der individuellen Verwirklichung des göttlichen Selbst und bei der Flucht vor der Welt in ein Leben im Himmel oder im Nirvana stehen, während zum ersten Mal der Integrale oder Purna Yoga als ein spirituelles Abenteuer weit darüber hinausgeht und in einer bedingungslosen Hingabe des Individuums die Herabkunft der göttlichen Kraft oder Shakti auf die Bewusstseinsebenen des Mentals, Vitals und der Materie anstrebt, um das gesamte irdische Leben in einer supramentalen Transformation zu vergöttlichen.

Für unser Generalthema von Bedeutung sind Sri Aurobindos und Mutters Aussagen über die universalen Bewusstseinsebenen, die Wesensteile des Menschen und das kollektive Wesen.[8] Bei der Organisation der Teile des Wesens gibt es zwei Systeme, welche gleichzeitig aktiv und miteinander verbunden sind: ein vertikales System und ein konzentrisches System.[9] Das vertikale System ist wie eine Stufenleiter, die aus verschiedenen Bewusstseinsebenen besteht, angefangen von der niedrigsten, dem Unbewusstsein, bis zur höchsten, dem Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda (sanskr. sat-cit-tapas/śakti-ānanda). Die Höhere Hemisphäre, das Königreich des vollkommenen und ewigen Geistes, wird durch die Vermittlerebene des Übermentals, welche auch einige andere vermittelnde Ebenen miteinschließt, von der niederen Hemisphäre getrennt, wo der Geist von Mental/Verstand, Vital/Leben und Materie/Physis/Körper bedeckt ist. Die Höhere Hemisphäre und die Vermittlerebenen bilden gemeinsam das Überbewusstsein, das aus den höheren Bewusstseinsebenen über dem gewöhnlichen Verstand besteht, von wo das Höhere Bewusstsein in die niederen Ebenen des Wesens herabsteigt, um langsam aus dem mentalen Halbtier den spirituellen Menschen zu entwickeln. Das Überbewusstsein umfasst die Ebenen jenseits des Mentals, d. h. die Höchste Wirklichkeit, bezeichnet als Satchittapasananda, Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit, und das Supramental sowie – in absteigender Reihenfolge – die höheren Ebenen des Mentals, d. h. das Übermental, das Intuitive Mental, das Erleuchtete Mental und das Höhere Mental.

Das Eine Göttliche Wesen hat vier Aspekte: Sein (Sat), Bewusstsein (Chit), Kraft (Tapas/Shakti) und Glückseligkeit (Ananda). Das Göttliche, das Höchste Wesen, von dem alle und alles kommen, in dem alle und alles sind und zu dem alle und alles zurückkehren, ist Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit (Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda). Es manifestiert sich als unendliche Existenz, deren Essenz das Bewusstsein mit seiner innewohnenden Kraft ist. Die Essenz des Bewusstseins ist Glückseligkeit, Selbstfreude. „Satchittapasananda ist eine ewige Existenz, welche wir dann sind; ein ewiges Bewusstsein, welches ihre Arbeiten in uns und anderen betrachtet; ein ewiger Wille oder eine ewige Kraft jenes Bewusstseins, welche sich in unendlichen Tätigkeiten ausdrückt; eine ewige Glückseligkeit, welche sich an sich selbst und allen ihren Tätigkeiten erfreut. Es selbst als das Höchste ist dauerhaft, unveränderbar, zeitlos, raumlos und ruhig in der Unendlichkeit seiner Tätigkeiten, nicht veränderbar von ihren Veränderungen, nicht getrennt von ihrer Vielheit, nicht vergrößert oder verkleinert von den Fluten und Ebben in den Gewässern der Zeit und des Raums, nicht verwirrt von ihren scheinbaren Widersprüchen oder begrenzt von ihren vom Göttlichen beabsichtigten Begrenzungen. Satchittapasananda ist die Einheit der Vielseitigkeit der manifestierten Dinge, die ewige Harmonie aller Variationen und ihrer Gegensätze, die unendliche Vollkommenheit, welche ihre Begrenzungen rechtfertigt und das Ziel ihrer Unvollkommenheiten ist.“[10]

Das Supramental ist das Wahrheitsbewusstsein, das Göttliche Wissen, die höchste göttliche Bewusstseinskraft, welche im Universum wirkt. Es ist ein Prinzip des Bewusstseins, das, über dem Mental liegend, in der grundlegenden Wahrheit und Einheit der Dinge existiert und wirkt und nicht wie das Mental in ihren phänomenalen Manifestationen und Trennungen. Sein fundamentaler Charakter ist Wissen durch Identität, durch welches das Selbst, das göttliche Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit,  Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda, sowie die Wahrheit der Manifestation erkannt werden. Gemäß Sri Aurobindo bedeutet der Terminus „Supramental“ eine überbewusste Ebene des Wesens, welche sich nicht nur über dem Mental, sondern auch jenseits desselben befindet, weil sie sich radikal davon unterscheidet. Das Supramental ist jenseits und verschieden nicht nur bezüglich des gewöhnlichen Mentals, sondern auch im Vergleich mit den überbewussten Ebenen des Mentals, d. h. mit dem Höheren Mental, Erleuchteten Mental, Intuitiven Mental und Übermental. Während alle diese überbewussten Ebenen des Mentals Mischungen von Licht und Dunkelheit, von Wissen und Unwissenheit sind, ist das Supramental das Wahrheitsbewusstsein ganz ohne Unwissenheit. „Das Supramental ist in seiner eigentlichen Essenz ein Wahrheitsbewusstsein, immer frei von Unwissenheit, ein Bewusstsein, welches das Fundament unserer aktuellen natürlichen oder evolutionären Existenz ist, und von wo aus die Natur in uns sich bemüht, das Wissen über das Selbst und die Welt sowie ein rechtes Bewusstsein und einen rechten Gebrauch unserer Existenz im Universum zu erlangen. Das Supramental, da es ein Wahrheitsbewusstsein ist, besitzt dieses innewohnende Wissen und diese Macht der wahren Existenz. Sein Fluss ist gerade und kann direkt zu seinem Ziel gehen. Sein Feld ist weit und kann sogar unbegrenzt werden, weil seine eigentliche Natur Wissen ist. Es muss kein Wissen erlangen, sondern besitzt es in seinem eigenen Recht. Seine Schritte sind keine aus der Unwissenheit in ein unvollkommenes Licht, sondern aus einer Wahrheit in eine größere Wahrheit, aus einer rechten Wahrnehmung in eine tiefere Wahrnehmung, aus der Intuition in die Intuition, aus der Erleuchtung in das absolute und grenzenlose Strahlen, aus den sich ausbreitenden Weiten in die eigentliche Unendlichkeit. Auf seinem Gipfel besitzt es das göttliche Allwissen und die göttliche Allmacht. In seiner stufenweisen evolutionären Bewegung der Selbstmanifestation, durch die es am Ende die eigenen höchsten Höhen entdecken wird, muss es in seiner eigentlichen Natur essentiell frei von Unwissenheit und Irrtum sein. Es bricht von der Wahrheit und dem Licht auf und bewegt sich immer in der Wahrheit und dem Licht.[11]

Zwischen dem Supramental und dem Mental gibt es höhere Stufen des Mentals, welche sich über unserem normalen Mental befinden und zum Supramental führen. Diese aufeinanderfolgenden Stadien, Ebenen oder graduellen Mächte des Wesens sind in unseren überbewussten Teilen versteckt. In einer herabsteigenden Ordnung sind es folgende Stufen des spiritualisierten Mentals: das Übermental mit seinen vier Ebenen Supramentales Übermental, Eigentliches Übermental, Intuitives Übermental und Mentales Übermental sowie die drei übermentalen Kräfte Intuitives Mental, Erleuchtetes Mental und Höheres Mental, die den Übergang zum Mental herstellen.

Während das Supramental das totale Wahrheitsbewusstsein ist, zieht die Ebene des Übermentals als Gesandte des supramentalen Bewusstseins in der kosmischen Unwissenheit die Wahrheiten in geteilter Form nach unten, indem sie ihnen eine gesonderte Identität verleiht. Das Übermental ist „eine Leinwand der unähnlichen Ähnlichkeit, durch die das Supramental in indirekter Weise auf eine Unwissenheit einwirken kann, deren Dunkelheit den direkten Einfluss eines höchsten Lichtes nicht ertragen oder erhalten könnte. Gerade die Projektion dieses leuchtenden Übermentals ermöglicht die Diffusion eines verringerten Lichtes in die Unwissenheit und das Werfen dieses gegenteiligen Schattens, des Unbewussten, welcher das ganze Licht in sich verschlingt. Denn das Supramental überträgt alle seine Wirklichkeiten auf das Übermental, überlässt es aber ihm, jene in einer Bewegung zu formulieren und in Übereinstimmung mit einem Bewusstsein von den Dingen, welches noch eine Vision der Wahrheit ist und dennoch gleichzeitig der erste Elternteil der Ignoranz.“[12] In einem Brief an einen Sadhak[13] schreibt Sri Aurobindo: „…das Übermental kennt den Einen als die Stütze, die Essenz und die fundamentale Macht aller Dinge, doch in seinem charakteristischen dynamischen Spiel betont es seine trennende Macht der Vielheit und versucht einer jeden Macht oder einem jeden Aspekt seine volle Chance der Manifestation zu geben, indem es sich auf das grundlegende Einssein stützt, um Disharmonie oder Konflikt zu vermeiden. Jede Gottheit, wie sie ist, schafft sich ihre eigene Welt, aber ohne Konflikt mit den anderen. Jeder Aspekt, jede Idee, jede Kraft der Dinge kann in der eigenen vollen gesonderten Energie und Pracht gefühlt werden und die eigenen Werte ausarbeiten, ohne Disharmonie zu schaffen, weil das Übermental den Sinn der Unendlichkeit besitzt und in der wahren (nicht räumlichen) Unendlichkeit viele übereinstimmende Unendlichkeiten möglich sind.“[14]

Die Intuition ist eine Bewusstseinsmacht, nahe und verwandt mit dem ursprünglichen Wissen durch Identität. Was im Intuitiven Mental direkte intime Vision ist, wird im Erleuchteten Mental zur Erleuchtung und im Höheren Mental zum Denkwissen. Diese wahre und authentische Intuition muss von einer Macht der mentalen Vernunft unterschieden werden, welche sehr leicht damit verwechselt werden kann, von jener Macht des involvierten Gedankengangs, welche ihre Schlussfolgerung mit einem Sprung erreicht und keiner gewöhnlichen Schritte des logischen Verstands bedarf. Denn Intuition bedeutet normalerweise die Macht des Verstehens der Dinge in sofortiger Weise, ohne auf eine bewusste Argumentation angewiesen zu sein. In diesem gewöhnlichen Sinne kann sich die Intuition auf einem Gefühl gründen oder eine rasche unterbewusste Überlegung sein, basierend auf subtilen Hinweisen, welche in bewusster Weise nicht zu verstehen sind. Doch Sri Aurobindo verwendet den Terminus „Intuition“, welcher eine viel tiefere Konnotation hat, in Verbindung mit der überbewussten Ebene unterhalb des Übermentals und oberhalb des Erleuchteten Mentals. Das Intuitive Mental „ist stets etwas, was direkt aus einer versteckten Identität springt. Wenn sich das Bewusstsein des Subjekts mit dem Bewusstsein im Objekt trifft, dann dringt es in dieses ein und sieht, fühlt oder vibriert mit jener Wahrheit, welche es kontaktiert, dann wirft sich die Intuition hinaus wie ein Funke oder Blitz von der Wucht der Begegnung. Oder wenn das Bewusstsein, auch ohne ein solches Aufeinandertreffen, in sich selbst hineinschaut und dort in direkter und intimer Weise die Wahrheit oder die Wahrheiten fühlt, welche ihm innewohnen, oder die hinter dem äußeren Anschein versteckten Kräfte kontaktiert, dann bricht ebenfalls ein intuitives Licht aus. Oder wenn das Bewusstsein der Höchsten Wirklichkeit oder der Spirituellen Wirklichkeit der Dinge und Wesen begegnet und vom Kontakt eine Vereinigung mit derselben erlebt, dann leuchtet der Funke, der Blitz oder die Flamme der intimen Wahrnehmung der Wahrheit in seinen Tiefen auf.“[15]

Das Erleuchtete Mental ist ein Mental des spirituellen Lichts und der inneren Schau. Es ist ein spiritueller Sinn, der etwas von der Substanz der Wahrheit erfasst. Sein Wirken, das vom Herabströmen eines innerlich sichtbaren Lichts begleitet wird, kann bis zu einem gewissen Grad die Wesensteile des Menschen vom Mental über das Vital bis in die Körperzellen erleuchten. Denken ist hier nur eine untergeordnete Funktion, um das Geschaute auszudrücken. „Die Klarheit der Intelligenz, ihr ruhiges Tageslicht weicht oder unterwirft sich einem intensiven Glanz und einer Erleuchtung des Geistes. Ein Spiel von Blitzen der Wahrheit und Spirituellen Macht dringt mit Gewalt von oben in das Bewusstsein und fügt der ruhigen und großen Erleuchtung und der weiten Herabkunft des Friedens, welche die Aktion des höheren spirituellen Prinzips charakterisieren oder begleiten, ein starkes Feuer der Verwirklichung und eine verzückende Ekstase des Wissens hinzu.“[16]

Das Höhere Mental ist eine erste Ebene des Spirituellen Bewusstseins, ein leuchtendes Denkmental, in welchem der Mensch dauerhaft und engstens sich seines Selbst und des Einen bewusst wird und normalerweise mit diesem Bewusstsein weiß und sieht. Sein Kennzeichen ist ein automatisches und spontanes Erkennen kosmischen Charakters, eine Art Ganzheit der Wahrheitsschau mit einem einzigen Blick und Denkformulierungen, eine wirksame Realisierung seiner Wahrnehmungen durch die Selbstmacht der Idee. Dieses Denken ist kein erworbenes Wissen, sondern die Selbstenthüllung ewiger Weisheit. Seine Ideen werden in das Herz und Leben als eine Kraft eingepflanzt, die ausgearbeitet werden soll. „So wie Macht des spirituellen Höheren Mentals und seine Ideen-Kraft bei ihrem Eintritt in unsere Mentalität modifiziert und verringert werden, reichen sie nicht aus, alle diese Widerstände wegzufegen und ein supramentales Wesen zu erschaffen. Sie können aber eine erste Umwandlung zuwege bringen, die einen weiteren Aufstieg und ein machtvolleres Herabkommen ermöglicht. Sie können die weitere Integration des Wesens in eine höhere Kraft von Bewusstsein und Wissen vorbereiten.“[17]

Obwohl getrennt und verschieden, sind das Mental, das Vital und die Physis miteinander verbunden und wirken aufeinander ein, weshalb sie Anlass geben zu unterscheidbaren Unterteilungen in diesen Hauptteilen des Wesens. Mental oder Verstand bedeutet besonders diesen Teil der Natur, der mit Kenntnis und Intelligenz zu tun hat, mit Ideen, mentalen Wahrnehmungen, Reaktionen des Denkens auf Dinge, mit wahrhaft mentalen Bewegungen und Gestaltungen, mit Vision und mentalem Willen usw., welche Teil der menschlichen Intelligenz sind. Das Gewöhnliche Mental besteht aus drei Teilen: dem Eigentlichen Mental, dem Vitalen Mental und dem Physischen Mental. Das Eigentliche Mental wird in drei Teile unterteilt: das Denkende Mental oder der Intellekt, beschäftigt mit Ideen und Wissen in sich selbst; das Dynamische Mental, beschäftigt mit dem Hervorbringen von mentalen Kräften zur Verwirklichung der Ideen; das Ausdrückende Mental, beschäftigt mit dem Ausdruck der Ideen im Leben. Das Vitale Mental oder der Wunschverstand ist eine Art Vermittler zwischen dem Vital und dem Eigentlichen Mental. Seine Funktion besteht nicht darin, zu denken und zu argumentieren, Dinge wahrzunehmen, zu prüfen, zu entdecken oder zu bewerten, sondern zu planen, zu träumen oder sich vorzustellen, was getan werden kann. Das Vitale Mental ist ein Mental des dynamischen Willens, Wirkens und Wünschens und beschäftigt sich mit Genießen und Besitzen, Kraft und Anwendung, mit Freude und Leid, Geben und Nehmen, Wachsen und Ausbreiten usw.. Das Vitale Mental ist mit dem Vital vermischt, deshalb wird es nicht wie das Denkende Mental von der Vernunft regiert, sondern von Impulsen und Wünschen des Vitals. Es versucht, seine auf Impulsen und Wünschen des Vitals basierenden Taten zu rechtfertigen und zu begründen. Das Physische Mental beschäftigt sich nur mit physischen Dingen. Es wird begrenzt durch die physische Sicht und Erfahrung der Dinge, mentalisiert die Erfahrungen des Kontakts mit dem äußeren Leben und den Dingen und geht nicht jenseits derselben. Das Physische Mental ist mit der Physis vermischt und nimmt Teil an den Charakteristiken des physischen Bewusstseins wie Trägheit, Dunkelheit und mechanische Wiederholung, welche sich im Physischen Verstand als mentale Starre, Konservatismus, Zweifel und Zwangsgedanken manifestieren. Das Mechanische Mental, engstens verbunden mit dem Physischen Mental, wiederholt nutzlos alles Geschehene. Sein Charakteristikum ist das einer Maschine, die ständig weiterläuft, so oft Gedanken in ihr auftauchen.

Das Vitale Wesen oder die Natur des Lebens besteht aus Wünschen, Empfindungen, Gefühlen, Leidenschaften, Impulsen, Energien des Wirkens und aus dem ganzen Spiel der besitzergreifenden Instinkte und anderer damit verbundenen wie Zorn, Angst, Begierde, Wollust usw.. Die Lebensenergie, Prana, welche den Körper belebt, ist ein Aspekt des Vitals. Das Vital besteht aus drei Hauptteilen: dem Höheren Vital, dem Mittleren/Eigentlichen Vital und dem Niederen Vital. Das Höhere Vital ist das Mentale Vital und das Emotionale Vital zusammengenommen. Das Mentale Vital verleiht den Emotionen, Wünschen, Leidenschaften, Empfindungen oder anderen Bewegungen des vitalen Wesens einen mentalen Ausdruck durch das Denken, Sprechen oder eine andere Weise. Das Emotionale Vital ist der Ort der verschiedenen Gefühle wie (menschliche) Liebe, Freude, Kummer, Hass usw.. Das Mittlere Vital oder Eigentliche Vital ist dynamisch, empfindsam und leidenschaftlich. Es ist der Ort der Wünsche und stärksten vitalen Reaktionen wie Ehrgeiz, Stolz, Angst, Ruhmsucht, Anziehungen und Abstoßungen, Wünsche und Leidenschaften aller Art. Außerdem ist es das Feld vieler vitaler Energien. Das Niedere Vital besteht aus den kleineren Bewegungen des Lebenswunsches und der menschlichen Lebensreaktionen. Es beschäftigt sich mit den kleineren Wünschen und Gefühlen wie Wunsch nach Nahrung, sexuellen Wünschen, Gefallen und Missfallen, Prahlerei, Streitereien, Wunsch nach Lob, Wut und sonstigen kleinen Wünschen jeglicher Art. Das Physische Vital ist jener Teil des Vitals, der voll und ganz den physischen Dingen zugewandt und mit Wünschen, Begierden und Verlangen nach Befriedigung auf physischer Ebene erfüllt ist.

Das Physische Wesen ist nicht nur der Körper, sondern auch die ganze materielle Natur. Der Körper hat ebenfalls ein eigenes Bewusstsein, welches in den unwillkürlichen Funktionen der verschiedenen körperlichen Organe und der verschiedenen physiologischen Systeme wirkt. Das Bewusstsein des Körpers ist nur ein Teil des Physischen Bewusstseins, welches auch das Physische Mental und das Physische Vital miteinschließt. Die Vitale Physis, aufs Engste mit dem Physischen Vital verbunden, ist Teil der vitalen Kraft, auf die sich das Nervliche Wesen gründet. Sie ist das Mittel der nervlichen Antworten und hängt eng mit den Reaktionen, Wünschen, Bedürfnissen und Empfindungen des Körpers zusammen.

Das Unterbewusstsein befindet sich unterhalb des bewussten Mentals und Vitals und darf nicht mit dem Subliminal verwechselt werden, welches ein Inneres Bewusstsein ist, weiter als das Oberflächliche oder Äußere Bewusstsein, und hinter demselben angesiedelt. Das Unterbewusste ist ein niederes und reduziertes Bewusstsein. Das Unterbewusstsein des Individuums ist jener untergetauchte Teil seines Wesens, in welchem es kein bewusstes, kohärentes, waches Denken, Wollen und Fühlen gibt, aber einen Teil, der trotzdem in versteckter Weise die Eindrücke aller Dinge aufnimmt und sammelt. Aus ihm können sich in Träumen oder im Wachzustand alle Arten von gewohnten, hartnäckigen Reizen und Bewegungen erheben. Beim normalen Menschen macht das Unterbewusste den Großteil des Vitalen Wesens sowie das Physische Mental und das geheime Bewusstsein des Körpers aus.  Das Unterbewusstsein „deckt die rein physischen und vitalen Elemente des Aufbaus unseres körperlichen Wesens ab, nicht mentalisiert, in ihrem Wirken vom Verstand unbewacht und unkontrolliert. Es inkludiert das schweigende dynamische okkulte Bewusstsein, von uns nicht wahrgenommen, welches in den Zellen und Nerven und im gesamten physischen Stoff wirkt und ihren Lebensprozess und die automatischen Antworten reguliert. Es deckt ebenso jene niederen Funktionen des untergetauchten Wahrnehmungsmentals ab, die im Tier und pflanzlichen Leben aktiver sind. In unserer Evolution haben wir die Notwendigkeit eines breiteren organisierten Wirkens dieses Elements hinter uns gelassen, aber es bleibt untergetaucht und dunkel in Bewegung unterhalb unserer bewussten Natur. Diese dunkle Aktivität erstreckt sich in einer versteckten mentalen Unterschicht, in welche die vergangenen Eindrücke und all das, was vom Oberflächlichen Mental abgelehnt worden ist, versinken, und in welcher dieselben latent aufbewahrt bleiben. Sie können sich von dort im Schlaf oder in Abwesenheit des Mentals erheben, indem sie Traumformen, Aktionsformen oder suggestive Formen des Mechanischen Mentals annehmen, Reaktionsformen oder Formen des automatischen vitalen Impulses, Formen der physischen Abnormalität oder der nervlichen Verwirrung, Formen der Morbidität, Krankheit und des Ungleichgewichts. Aus dem Unterbewussten bringen wir gewöhnlich so viel an die Oberfläche, wie unser waches Wahrnehmungsmental und unsere Intelligenz für ihre Absichten benötigen. Indem wir diese Dinge so in unser Wachbewusstsein bringen, sind wir uns nicht über ihre Natur, ihren Ursprung und ihr Wirken bewusst und wir verstehen sie nicht in ihren Werten, sondern durch eine Übersetzung in die Werte unserer wachen menschlichen Wahrnehmung und Intelligenz. Doch das Auftauchen des Unterbewusstseins mit seinen Effekten auf Verstand und Körper ist zum Großteil automatisch, ungerufen und unwillkürlich, weil wir darüber nichts wissen und folglich keine Kontrolle über das Unterbewusste haben.“[18]

Das Unbewusstsein ist der involvierteste Zustand des Überbewusstseins. Es ist die niedrigste Ebene des Bewusstseins und befindet sich unterhalb des Unterbewusstseins. Das Unbewusste ist in Wahrheit nicht ohne Bewusstsein, wie es der Terminus zu verstehen geben könnte, sondern eine Bewusstseinsebene, welche eine totale Involution des Bewusstseins repräsentiert, eine „inverse Reproduktion des höchsten Überbewusstseins. Es besitzt die gleiche Absolutheit von Wesen und automatischem Wirken, aber in einer unermesslichen Trance eingeschlossen, ein Wesen, das sich in sich selbst verloren hat, das in seinen eigenen Abgrund von Unendlichkeit gestürzt ist.“[19] Die Evolution beginnt vom Unbewusstsein, woraus alle Mächte des Überbewusstseins evolvieren und schrittweise hervorgehen, wobei die Materie die erste Manifestation ist.

Das konzentrische System der Wesensteile des Menschen ist wie eine Reihe von Kreisen oder Hüllen, welche aus dem Äußeren/Oberflächlichen Wesen, dem Inneren Wesen und dem Innersten Wesen besteht.[20] Das Äußere Wesen und das hinter ihm befindliche Innere Wesen, welches auch als Subliminal bezeichnet wird, bilden unser phänomenales oder instrumentales Wesen und gehören zur Natur, Prakriti (sanskr. prakti). Sie besitzen drei analoge Teile: einen physischen, einen vitalen und einen mentalen. Das Innerste Wesen ist das Wahre Wesen, Purusha (sanskr. purua). Innerhalb des Purushas befindet sich ein Innerstes Mental, ein Innerstes Vital, eine Innerste Physis und, in seinem eigentlichen Kern, das Seelische/Psychische Wesen oder die Seele. Das menschliche Wesen besteht also aus vier Hauptkomponenten, die folgendermaßen bezeichnet werden: erstens das Zentrale Wesen oder der ewige Jivatman (sanskr. jīvātman) im überraumzeitlichen oder suprakosmischen oder transzendenten Sein über uns; zweitens die Seele oder der göttliche Seelen-Funke, das Seelische/Psychische Wesen und das Innerste Mentale, Vitale und Physische Wesen im raumzeitlichen oder kosmischen oder immanenten Werden hinter uns; drittens das Subliminal, d. h. das Innere Mentale, Vitale und Physische Wesen; viertens das Äußere/Oberflächliche Mentale, Vitale und Physische Wesen.

Es gibt keine essentielle Verschiedenheit, denn alles ist grundlegend das essentielle Göttliche. Die Verschiedenheit liegt in der Manifestation. Der Atman (sanskr. ātman) ist der Eine, der die Vielen stützt. Das Zentrale Wesen ist einer der göttlichen Vielen, die auf dem Einen beruhen. Das Zentrale Wesen besteht aus der Dreiheit Jivatman – Seele/Seelenfunke – Seelisches/Psychisches Wesen. Die beiden Aspekte des Zentralen Wesens oder Jivatmans in der kosmischen Manifestation sind einerseits der Purusha oder die spirituelle Essenz, d. h. der Seelenfunke und das Seelische/Psychische Wesen, und andererseits die Prakriti oder die nichtspirituelle Natur, d. h. das Mental, das Vital und die Physis. Der transzendente Jivatman ist ein ewiger Teil des Göttlichen, d. h. eins mit ihm in der Essenz, und befindet sich über dem Kosmos und dem Individuum als das Zentrale Wesen in seinem Sein. Er wird nicht geboren und entwickelt sich nicht, sondern lenkt von oben die Geburt und die Evolution des instrumentalen Wesens in Zeit und Raum. Daher ist der Jivatman das Individuelle Selbst, die Spirituelle Person, das ewige Wesen des Menschen, unser wahres innerstes Wesen. Wenn das Eine Göttliche seine ihm ewig innewohnende Vielheit offenbart, dann wird der Atman oder Jivatman für die Dauer dieser Offenbarung zum Zentralen Wesen, welches von oben über die Entwicklung der Personalitäten und Formen des Lebens hier auf der Erde wacht, aber selbst ein ewiger Teil des Göttlichen bleibt und der Manifestation in der irdischen Welt vorausgeht.

Der Jivatman stellt auf allen Ebenen des Bewusstseins einen Vertreter heraus, die folgendermaßen benannt werden: erstens der Seelische Purusha oder Chaitya Purusha (sanskr. caitya purua), die wahre Seelische Person; zweitens der Mentale Purusha oder Manomaya Purusha (sanskr. manomaya purua), die wahre Mentale Person; drittens der Vitale Purusha oder Pranamaya Purusha (sanskr. prāamaya purua), die wahre Vitale Person; viertens der Physische Purusha oder Annamaya Purusha (sanskr. annamaya purua), die wahre Physische Person. Die Seele, der sogenannte Göttliche Funke in uns, befindet sich im „seelischen Herzen“ hinter unserem emotionalen Herzen und wird im Laufe der Evolution zum Seelischen/Psychischen Wesen oder Chaitya Purusha. Das Seelische/Psychische Wesen befindet sich hinter dem Individuum als das Zentrale Wesen in seinem Werden. Es ist das veränderliche kosmische Wesen des Menschen, dessen Entwicklung aus dem Jivatman hervorgeht als sein direkter Vertreter in Zeit und Raum. Es steht hinter der Entwicklung des Mentalen, Vitalen und Physischen Wesens und stützt dieselben, während es sich selbst von Leben zu Leben entwickelt, indem es die Essenz aller Erfahrungen in der Unwissenheit sammelt, um einen Kern des seelischen Wachstums in der Natur zu bilden. Wenn die Seele in Form des Seelischen/Psychischen Wesens ihre höchste Bewusstseinsebene, das Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda, erreicht, dann verschmilzt sie mit dem Jivatman, ihrem wahren, ewigen Individuellen Selbst, welches eins ist mit Ishwara (sanskr. īśvara), dem Kosmischen Selbst, und eins mit Purushottama (sanskr. puruottama), dem Transzendenten Selbst.

Das Subliminal ist das Innere Wesen in seiner Ganzheit des Inneren Mentals, des Inneren Vitals und der Inneren Physis. Es ist in Kontakt mit den universalen Ebenen des Verstands, des Lebens und der Materie. Die Seele oder die Psychische/Seelische Entität – als ein Aspekt des Zentralen Wesens – stützt diese inneren Wesen in ihrer Manifestation und entwickelt im Zuge der Evolution eine Individualität, das Seelische/Psychische Wesen. Das Innere Wesen steht hinter dem Äußeren Mental, dem Äußeren Vital und der Äußeren Physis. Das Subliminal im Menschen ist der weiteste Teil seiner Natur und öffnet sich oben Richtung Überbewusstsein und unten Richtung Unterbewusstsein und Unbewusstsein. Es ist also nicht unterbewusst, sondern bewusst und größer als das gewöhnliche Wach- oder Oberflächenbewusstsein. Das Unterbewusstsein befindet sich unterhalb des normalen physischen Bewusstseins, während das Subliminal sich hinter ihm befindet und es stützt. Das Umweltwesen oder Umweltbewusstsein ist ein Teil des Wesens, den eine jede Person um sich herum trägt, außerhalb ihres Körpers, und mittels dessen sie mit anderen Personen und den universalen Kräften in Kontakt ist.

Der Teil unserer Natur, dessen wir uns normalerweise bewusst sind, ist unser „Ego“ genanntes Äußeres oder Oberflächliches Wesen. Es besteht aus der Äußeren Physis oder dem Grobstofflichen Körper[21], verbunden mit der materiellen Welt; aus dem Äußeren Vital oder dem Leben, verbunden mit der Lebensenergie und den Emotionen, Wünschen, Leidenschaften usw.; und aus dem Äußeren Mental oder dem Verstand, verbunden mit der Erkenntnis, Intelligenz, den Ideen, mentalen Wahrnehmungen usw..

Wir können davon ausgehen, dass Sri Aurobindos Aussagen über die Individuelle Seele im Allgemeinen auch für die Kollektive Seele gelten. Auf die Entwicklung von Individuum und Kollektiv treffen die gleichen physischen, vitalen und mentalen Bewusstseinsebenen zu, und Sri Aurobindo spricht auch immer wieder vom „kollektiven Leben“, „kollektiven Verstand“ und „kollektiven Willen“. Die Nation hat so wie das Individuum einen dreifachen Körper: sthūla, den Grobstofflichen Körper; sūkma, den Feinstofflichen Körper; kāraa, den Kausalen oder Spirituellen Körper.[22] Oberste Regel und Ursache des individuellen Lebens ist das Streben nach eigener Selbstentwicklung. Bewusst, halb-bewusst oder mit dunkel unbewußtem Tasten strebt es immer und mit Recht nach Selbstgestaltung, Selbstfindung, danach, in sich selbst Gesetz und Kraft des eigenen Seins zu entdecken und zu erfüllen. Dies Ziel ist grundlegend, richtig und unumgänglich. Denn trotz aller Einschränkungen und Vorbehalte ist das Individium nicht nur das ephemere physische Geschöpf, eine zusammengesetzte und sich wieder auflösende Form aus Mentalem und Körper, sondern ein Wesen, eine lebendige Kraft der ewigen Wahrheit, ein sich selbst offenbarender Geist. Gleicherweise ist oberstes Gesetz, oberster Zweck der Gesellschaft, Gemeinschaft oder Nation, dass sie ihre eigene Selbsterfüllung sucht. Mit Recht trachtet sie, sich selbst zu finden, in sich selbst Gesetz und Macht ihres eigenen Seins zu erkennen und sie möglichst vollkommen zu erfüllen, alle Möglichkeiten zu verwirklichen und das eigene, sich selbst offenbarende Leben zu leben. Der Grund hierfür ist der gleiche. Denn auch sie ist ein Wesen, eine lebendige Kraft der ewigen Wahrheit, eine Selbst-Offenbarung des kosmischen Geistes und bestimmt, auf ihre Weise und nach ihrem Befähigungsgrad die besondere Wahrheit, Kraft und Sinnhaftigkeit des ihr innewohnenden kosmischen Geistes darzustellen und zu erfüllen. Dem Individuum entsprechend hat die Nation oder Gesellschaft Körper, organisches Leben, moralisches und ästhetisches Temperament, ein sich entfaltendes Mentales, eine hinter all diesen Zeichen und Kräften verborgene Seele, um derentwillen diese existieren. Man könnte sogar feststellen, sie sei wie das Individuum eher wesenhaft eine Seele, als dass sie eine besitze. Es ist, hat sie sich erst einmal besonnen, eine immer bewusster werdende Gruppenseele, die sich immer mehr erfüllt, je mehr sie ihr gemeinsames Handeln, ihre Mentalität und ihr organisches, sich selbst darstellendes Leben entfaltet.“[23] In diesem Zusammenhang stellen sich zwei zentrale Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv? Und wie ist das Verhältnis zwischen Nationskollektiv und Menschheitskollektiv?

Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv gibt Sri Aurobindo folgende ausgewählte Antworten, die etwa dem Stand kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entsprechen: Man beginnt am besten mit dem Individuum, da wir von seiner Natur vollkommenere und bessere Kenntnis und Erfahrung besitzen als von einem allgemeinen Seelen- und Lebensgefüge, und weil Gesellschaft oder Nation, selbst in ihrem breiteren Rahmen, ein weiteres zusammengesetztes Individualitätsgefüge, den kollektiven Menschen, bedeutet. Die für das Individuum gefundenen Werte gelten wahrscheinlich auch für das allgemeine Grundprinzip der größeren Ganzheit. Außerdem ist die Entwicklung des freien Individuums, wie schon gesagt, die Grundbedingung für die Entwicklung der vollkommenen Gesellschaft. Deshalb müssen wir vom Individuum ausgehen. Es ist unser Führer und unsere Grundlage.[24] In den Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gruppe erscheint die konstante Tendenz der Natur als Kampf zwischen zwei gleich tiefverwurzelten menschlichen Tendenzen: zwischen Individualismus und Kollektivismus. Auf der einen Seite stehen die beherrschende Autorität, die perfekte Organisation und die hochentwickelte Macht des Staates. Ihm gegenüber stehen der ausgeprägte Freiheitsanspruch, die persönliche Vollkommenheit und die Entfaltung der Kräfte des individuellen Menschen. So stehen in dauernder Opposition einander gegenüber die Idee des Staates, jener kleinen oder ungeheuer großen lebendigen Maschine, und die Idee des Menschen, der immer bewusster hervortretenden und erleuchteten Persönlichkeit, die „Gott im Wachsen“ ist. Dabei spielt die Größe des Staates für das Wesen dieses Widerstreits keine Rolle und braucht es auch für seine charakteristischen Erscheinungen nicht. Zunächst war es die Familie, der Stamm  oder die Stadt, die „polis“. Dann wurde es die Sippe, die Kaste und Klasse, die „kula“, die „gens“. Heute ist es die Nation. Morgen oder übermorgen kann es die ganze Menschheit sein. Gerade auch dann wird die Frage offenbleiben nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Menschheit, zwischen der aus ihrem Selbst nach Freiheit strebenden Persönlichkeit und dem Kollektiv, das alles zu beherrschen sucht.[25] Solange die Menschheit noch nicht erwachsen ist, solange sie sich noch entfalten muss und höherer Vervollkommnung fähig ist, kann es kein statisches Allgemeinwohl geben, das unabhängig vom Wachsen der Individuen ist, die zusammen das allgemeine Ganze bilden. Alle kollektivistischen Ideale, die in unzuverlässiger Weise die einzelne Person unterdrücken wollen, haben in Wirklichkeit einen statischen Zustand zum Ziel, ob dies ein jetzt schon erreichter ist oder einer, den man bald zustande zu bringen hofft. In ihm muss jeglicher Versuch zu einer ernsthaften Änderung dieses Zustandes als das Vergehen eines ungeduldigen Individualismus gegen den Frieden, den gerechten Ablauf der so wunderbar eingerichteten Gemeinschaftsordnung und gegen die allgemeine Sicherheit angesehen werden. Immer ist es der Einzelne, der Fortschritte macht und die Übrigen zwingt, auch vorwärtszugehen. Der Instinkt des Kollektivs will dagegen ruhig in seiner feststehenden Ordnung verharren. Fortschritt, Wachstum und die Verwirklichung umfassenderen Seins schenken nur dem Einzelnen ein höheres Glücksgefühl. Dagegen fühlt sich das Kollektiv wohl in stabilem Zustand und sicherem Behagen. Das muss auch so sein, solange Letzteres mehr eine physische und wirtschaftliche Einheit ist als eine ihres Selbst bewusste Kollektive Seele.[26] Diese Gruppenseele hat nicht das Recht, das Individuum bloß als eine Zelle ihres Körpers zu betrachten, ein passives Instrument ihres kollektiven Lebens und Wachstums. Wir werden der göttlichen Wirklichkeit im Menschen und dem Geheimnis der menschlichen Geburt nicht gerecht, wenn wir nicht sehen, dass jeder individuelle Mensch jenes Selbst ist und das gesamte menschliche Potential in seinem Wesen enthält.[27]

Weiter mit Sri Aurobindos Worten: Eine spiritualisierte Gesellschaft würde, wie es ihre spiritualisierten Individuen tun, nicht im Ich, sondern im Spirit leben, nicht als ein kollektives Ego, sondern als Kollektive Seele. Diese Freiheit von dem egoistischen Standpunkt wäre ihr erstes und wesentlichstes Merkmal. Eine solche Befreiung von der Selbstsucht aber wird nicht, wie man dies heute anstrebt, durch Überredung oder Zwang des Individuums zur Aufgabe seines persönlichen Wollens und Strebens erreicht, durch Unterwerfung der wertvollen und schwer erworbenen Individualität unter den kollektiven Willen, unter Ziele und Selbstsucht der Gesellschaft, indem der Einzelne gezwungen wird, seine Seele auf dem Altar dieses riesigen, gestaltlosen Idols darzubringen. Denn dies wäre nur das Opfer eines kleineren Egoismus für einen größeren – größer an Umfang, aber nicht notwendigerweise an Qualität und Wert. Ein kollektiver Egoismus, der die Summe ist der vereinten Egoismen aller, kann ebensowenig als Gott verehrt werden, denn er ist ebenso befleckt und oft als Fetisch hässlicher, barbarischer als die Selbstsucht des Einzelnen.[28] Wie der Spirit und das Leben der Einzelnen ist, die ein Kollektiv bilden, so wird auch der verwirklichte Spirit des Kollektivs und die Kraft seines Lebens sein. Eine Gesellschaft, die nicht durch ihre Menschen, sondern durch ihre Institutionen lebt, ist keine Kollektivseele, sondern eine Maschine. Ihr Leben wird zu einem mechanischen Produkt und hört auf, ein lebendiges Wachstum zu sein. Darum muss einem spirituellen Zeitalter das Erscheinen einer zunehmenden Zahl von Individuen vorangehen, denen das normale intellektuelle, vitale und physische Dasein des Menschen nicht mehr genügt, sondern die erkennen, dass eine größere Entfaltung wahres Ziel der Menschheit ist, dass sie diese in sich selbst zu verwirklichen und andere zu ihr zu führen haben und dass sie diese Entfaltung zum anerkannten Ziel der Menschheit machen müssen.[29] Erst dann entsteht eine Art lebendige Religion der konstanten Anerkennung der Heiligkeit der physischen Mutter, des Landes. Dazu kommt oft in geheimnisvoller Weise die Verehrung der Nation als einer Kollektiven Seele. Diese Seele lebendig zu erhalten, ist für jeden Menschen erste Pflicht und erstes Bedürfnis. Er muss sie gegen Unterdrückung oder tödliche Verletzung verteidigen. Wenn sie unter fremder Gewalt ist, muss er sie hüten, auf ihre Befreiung und Wiederherstellung harren und dafür kämpfen. Siecht diese Seele aber unter der Wirkung eines tödlichen spirituellen Leidens dahin, muss er sich darum bemühen, sie zu heilen, sie wieder zum Leben zu bringen und am Leben zu erhalten.[30]

Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nationskollektiv und Menschheitskollektiv gibt Sri Aurobindo folgende ausgewählte Antworten, die wiederum den Entwicklungsstand von 1938 repräsentieren: Die zentrale Frage lautet: ist die Nation, die größte natürliche Einheit, die die Menschheit bis heute zu schaffen fähig war und durch die sie ihr kollektives Leben sichern konnte, auch ihre letzte und endgültige Einheit? Oder kann ein größerer Verband gebildet werden, ein Zusammenschluss, der viele, wenn nicht die meisten Nationen umfasst und letztlich alle in seiner Totalität zusammenhält?[31] Auf der gegenwärtigen Stufe des menschlichen Fortschritts ist die Nation die lebendige kollektive Einheit der Menschheit. Imperien existieren zwar, aber sie sind bis jetzt nur politische, noch keine wirklichen Einheiten. Sie haben ihr Leben nicht von innen. Sie verdanken ihren Bestand einer Gewalt, die den sie konstituierenden Elementen aufgezwungen worden ist, oder einer politischen Zweckmäßigkeit, die von den konstituierenden Partnern gefühlt oder hingenommen und von der Außenwelt begünstigt wurde.[32] Das Leben der Nationen wird sich früher oder später unter das Leben eines größeren Kollektivs, z. B. eines geeinten Europas oder einer geeinten Menschheit, unterordnen.[33] Die gesamte Menschheit kann als ein Kollektives Wesen betrachtet werden. Aber dieses Wesen ist eine Seele und ein Leben, nicht nur ein Mental und Körper. Jede Gesellschaft entwickelt sich in eine Art Unterseele oder Gruppenseele dieser Menschheit und entfaltet ein allgemeines Temperament, einen allgemeinen Charakter und Typ des Mentalen, entwickelt vorherrschende Ideen und Tendenzen, welche ihr Leben und ihre Institutionen formen.[34]

Und weiter mit Sri Aurobindos Worten: Die Lösung liegt nicht in der Vernunft, sondern in der Seele des Menschen, in seinen spirituellen Bestrebungen. Nur eine spirituelle, eine innere Freiheit kann eine vollkommene menschliche Ordnung schaffen. Eine spirituelle Erleuchtung allein, die der rationalen überlegen ist, vermag die vitale Natur des Menschen zu erleuchten und ihr Eigenstreben, ihre Widersprüche und Unstimmigkeiten auszugleichen. Eine tiefere Bruderschaft, ein noch nicht gefundenes Gesetz der Liebe ist die einzig mögliche Grundlage für eine vollkommene soziale Entwicklung. Diese Bruderschaft und Liebe aber werden nicht aus den vitalen Trieben oder der Vernunft entstehen. Dann würden sie entgegengesetzten Überlegungen und anderen feindlichen Instinkten begegnen und von diesen abgelenkt werden. Sie werden auch nicht in der Natur des menschlichen Herzens gefunden, das erfüllt ist von vielen anderen Leidenschaften, die sie bekämpfen würden. Allein in der Seele des Menschen können sie ihre Wurzel finden: die Liebe, die auf einer tieferen Wahrheit unseres Wesens gründet, die Bruderschaft, oder besser gesagt, die spirituelle Kameradschaft, Ausdruck einer inneren Erfahrung der Einheit. Denn es handelt sich um ein anderes Gefühl als das der Bruderschaft in ihrem vitalen oder mentalen Empfinden, um eine ruhigere, mehr dauerhafte treibende Kraft. Nur so kann der Egoismus schwinden und ein wahrer Individualismus der einmaligen Gottheit in jedem Menschen sich aufbauen auf dem wahren Kommunismus einer gleichartigen Gottheit der Menschheit, deren eigentliche Natur die Einheit in der Vielfalt ist. Dieser Lösung kann der Vorwurf gemacht werden, sie verlege das Ziel einer besseren menschlichen Gesellschaft in eine weit entfernte zukünftige Entwicklung der Menschheit; denn sie besagt, dass kein von der Vernunft geschaffenes System den individuellen oder kollektiven Menschen verbessern könne. Eine innere Wandlung der menschlichen Natur, zu schwierig, um von vielen erreicht zu werden, wäre hierfür notwendig. Ob dies zutrifft, ist nicht sicher. Sicher aber ist, dass, wenn diese Lösung nicht die richtige ist, es überhaupt keine Lösung gibt, dass, wenn dies nicht der Weg ist, es überhaupt für die Menschheit keinen gibt. Denn die irdische Entwicklung muss über den Menschen hinweggehen, wie sie über das Tier hinweggegangen ist. Eine bedeutendere Art muss kommen, die fähig ist zu einer spirituellen Wandlung. Eine Lebensform muss geboren werden, die dem Göttlichen näher ist. Jedenfalls besteht keine logische Begründung für die Behauptung, eine solche Veränderung könne sich überhaupt nicht anbahnen, nur weil ihre Verwirklichung nicht unmittelbar möglich erscheint. Eine entscheidende Wendung der Menschheit zu dem spirituellen Ideal hin, der Anfang eines stetigen Aufstiegs, einer Führung hinauf zu den Höhen, sollte nicht für völlig unmöglich gehalten werden, auch wenn die Gipfel zunächst nur von den wenigen Führern erreicht werden, weit entfernt von den Spuren der Allgemeinheit. Ein solcher Anfang kann vielleicht den Einbruch eines Einflusses bedeuten, der das ganze menschliche Leben in seiner Ausrichtung sofort verändert und seine Möglichkeiten und sein ganzes Gefüge für immer erweitern wird.[35]

Bevor wir näher auf die besondere Rolle der indischen Nation für die spirituelle Entwicklung der gesamten Menschheit eingehen, wollen wir kurz die wesentlichen Stränge der Geschichte Indiens vom Beginn der britischen Kolonialherrschaft bis zur Unabhängigkeitserklärung zusammenfassen.[36] Die britische Kolonialherrschaft begann im Jahr 1757, und Britisch-Indien wurde 1858 nach der Niederschlagung des Indischen Aufstands proklamiert. 1885 gründeten Hindus und Muslime gemeinsam den Indischen Nationalkongress (INC), der zunächst nur mehr politische Mitspracherechte für die einheimische Bevölkerung forderte. Wegen des wachsenden Einflusses der Hindus im INC kam es 1906 zur Gründung der rivalisierenden Muslimliga. Indischer Nationalkongress und Muslimliga verfassten 1916 gemeinsam eine Erklärung mit Forderungen nach indischer Unabhängigkeit. Diese wurde von der britischen Regierung im August 1917 mit einer politischen Absichtserklärung beantwortet, Indien einen allmählichen Übergang zur Selbstregierung zuzugestehen. In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde die Hindutva-Bewegung mit dem Ziel der Wiedererschaffung einer einzigen Hindu-Nation ins Leben gerufen. 1925 wurde Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) gegründet, eine radikal-hinduistische, hierarchisch strukturierte Kaderorganisation, die auf den Prinzipien der Hindutva basierte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs eskalierten die Feindseligkeiten zwischen Hindus und Muslimen und schließlich stimmten auch Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi, die Führer des Indischen Nationalkongresses, der Teilung Indiens mit Abtrennung der muslimischen Gebiete in Form eines neuen politischen Gebildes „Pakistan“ zu, wie das von der Muslimliga gefordert wurde. 1947 wurden nahezu zeitgleich Pakistan und Indien als Dominions im Rahmen des Britischen Commonwealths unabhängig. In Kaschmir versuchten muslimische Freischärler, den Anschluss an Pakistan zu erzwingen, weswegen der hinduistische Maharaja Indien zu Hilfe rief und den Anschluss seines überwiegend muslimisch besiedelten Fürstentums an Indien erklärte. Der Konflikt um Kaschmir führte letztlich zum Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg, der 1949 mit der de facto-Zweiteilung Kaschmirs unter Vermittlung der Vereinten Nationen endete.

Laut Sri Aurobindo hat das Göttliche für den aktuellen Weltenzyklus Indien als Retter der Welt auserkoren.[37] Diese auf okkulter Ebene beschlossene Tatsache wurde vom Hindu-Mönch Swami Vivekananda, der Ende des 19. Jahrhunderts Hinduismus und Yoga im Westen bekanntgemacht hat, und Der Mutter bestätigt. Die überlieferte Geschichte Indiens beginnt mit der vedischen Zeit der spirituell hoch entwickelten Seher. Der Buddhismus u. Adi Shankaras[38] lebensverneinende Spiritualität – die Welt ist nur eine Illusion/Maya – führten im Mittelalter zu einer langfristigen Schwächung der indischen Nation, die in einen Zustand der Trägheit verfiel. Erst die muslimische Invasion bewirkte eine Art Wiederbelebung, weil sie die Bevölkerung mit Dynamik nährte. Die im 15. Jahrhundert entstandene Sikh-Religion war ein erster Versuch der Vereinigung von weltabgewandtem Hinduismus und weltzugewandtem Islam, Spiritualität und Lebenskraft. Indien war bis vor 200 Jahren das reichste Land der Welt mit einer nachhaltigen Wirtschaft ohne Umweltzerstörung und ohne Ausbeutung von anderen Völkern und Ländern. Das zog Kolonialmächte an. Die Briten standen den Spaniern, Franzosen und anderen, welche die indigene Kultur zerstörten, in nichts nach: sie fabrizierten künstliche Hungersnöte mit Millionen von verhungerten Indern und unterdrückten die indische Mentalität durch ein aufgezwungenes, europäisches Bildungssystem.

Die Teilung des Mutterlandes im Jahr 1947 bezeichnete Sri Aurobindo als eine schmerzvolle Verzögerung von Indiens spiritueller Entwicklung. Der erste Schritt Richtung Teilung Indiens erfolgte bereits 1920, als sich Mohandas Karamchand Gandhi mit der Kampagne zur Erhaltung des Kalifats solidarisierte, was zur Abgrenzung der indischen Muslimliga führte. Es bedeutete den Verlust des spirituellen Fundaments der Unabhängigkeitsbewegung und den Beginn einer langen Phase der Trägheit. Gandhis Verständnis von Spiritualität trug zu dieser fatalen Entwicklung bei. Für ihn waren Schwäche und Armut spirituell, während Stärke und Reichtum nicht spirituell waren. Deshalb strebte er den Sieg über die britische Herrschaft durch Schwäche in Form von passivem Widerstand an. Gandhi ging sogar soweit, dass er im Zweiten Weltkrieg Winston Churchill einen Brief schrieb mit der Empfehlung, sich den Nazis zu ergeben und sie durch gewaltlosen Widerstand bzw. reine Seelenkraft zu besiegen. So war es der ehemalige Freiheitskämpfer Sri Aurobindo, der sich im Sinne einer dynamischen und aktiven Spiritualität innerlich und äußerlich gegen die drohende Teilung des Landes stemmte. Im März 1942 verhandelte Richard Stafford Cripps im Auftrag der britischen Regierung mit der indischen Nationalbewegung. Als Gegenleistung für eine weitere Zusammenarbeit mit Großbritannien während der Dauer des Krieges sagte er dem Führer der indischen Kongresspartei Gandhi und dem Repräsentanten der Moslemliga Ali Jinnah die Entlassung Indiens in den Dominionstatus nach Japans Niederlage zu, was auf die Unabhängigkeit direkt nach Kriegsende hinauslief. Die indische Nationalbewegung lehnte dies ab, mit Ausnahme von Sri Aurobindo, der den Vorschlag in einer Botschaft an Cripps willkommen hieß als eine Gelegenheit, „die Indien geboten wird, um seine Freiheit und Einheit selbst zu bestimmen, in vollständiger Entscheidungsfreiheit zu organisieren und einen bedeutenden Platz unter den freien Nationen der Welt einzunehmen“[39]. Sri Aurobindo entsandte sogar einen Vertrauten nach Delhi, um die politischen Führer des Landes umzustimmen, fand jedoch kein Gehör. Der Cripps-Vorschlag war die letzte Chance auf Indiens Unabhängigkeit ohne Teilung, doch Gandhi ignorierte Sri Aurobindos Rat, wodurch er nicht nur die Unabhängigkeit des Landes verzögerte, sondern auch für dessen Teilung verantwortlich war.

Die Folgen des Kolonialismus wirken bis in die Gegenwart Indiens nach. Nach der Unabhängigkeitserklärung hatte die politische Elite mit ausländischer oder britischer Bildung eine kolonialistische Einstellung. So wurde Jawaharlal Nehru von seinem Mentor Gandhi als erster Premierminister eingesetzt und nicht vom Volk gewählt. Statt der demokratischen Einstellung des Dienens wurde die kolonialistische Einstellung des Herrschens prolongiert. Die Verfassung war ohne Authentizität, weil eine Collage von anderen Verfassungen, welche nichts mit den Bedürfnissen des Volkes zu tun hatte. So wurden Verfassung und Regierungssystem, beide ursprünglich zur Ausbeutung Indiens entworfen, von den Briten übernommen. Die Regierungsmitglieder wurden indirekt durch die korrupten Abgeordneten im Parlament gewählt. Die indische Mentalität will aber ihren Führer, dem sie vertraut, direkt wählen können. So scheint Sri Aurobindos Vorhersage, dass Indien durch die Erfahrung der parlamentarischen Demokratie gehen müsse, um schließlich festzustellen, dass sie nicht zu ihm passe, in Erfüllung zu gehen. Als die UNO Indien einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat anbot, lehnte Nehru es mit dem Argument ab, dass niemand das friedliche Indien angreifen und China es im Notfall verteidigen werde; daher solle China diesen Sitz erhalten. Dabei hatte Sri Aurobindo politisch und spirituell dafür gesorgt, dass Indien zuerst seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit wiedergewinnt, damit es danach seine Seele finden kann, um seine Mission für die Menschheit zu erfüllen. Doch nun wurde Pakistan, eine der Quellen des weltweiten muslimischen Terrorismus, von den USA gegen Indien unterstützt. Pakistanische Politiker und Militärs nähren die Angst und den Hass gegenüber Indien, damit es nicht zu einer natürlichen Wiedervereinigung beider Länder komme. Laut Der Mutter werden die USA eines Tages beginnen, statt Pakistan Indien zu unterstützen. In einer veränderten Weltlage werde eine Föderation aller ehemaligen indischen Territorien Indien-Pakistan-Bangladesch[40] gebildet, zuerst kulturell, dann wirtschaftlich, schließlich politisch. Auch Sri Aurobindo hatte gemeint, dass Indien einen Prozess eines weiten nationalen Yogas durchlaufen werde, in dem vielfältige Probleme zum Vorschein kommen, die gelöst werden müssen, Möglichkeiten der Imitation von anderen, die erschöpft werden müssen, damit es sein eigenes Dharma, d. h. sein inneres Gesetz, finde. So suchten Sri Aurobindo und Die Mutter stets nach einer geeigneten Führungsperson für Indien mit Qualitäten wie spirituelles Streben, Bereitschaft zum Dienen und Vitalität. Die Mutter empfing die damalige Premierministerin Indira Gandhi im Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry und verlieh ihr die „Kraft eines Tigers“. Aber Indira Gandhi verschrieb sich in den Siebzigerjahren dem Säkularismus, um Konflikte zwischen Hindus und Muslimen zu vermeiden, und verließ damit den von Der Mutter empfohlenen spirituellen Weg der nationalen Wiedervereinigung.

Erst der aktuelle Premierminister Narendra Modi von der 1980 gegründeten hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), dem politischen Flügel der oben erwähnten Sangh-Bewegung RSS, zeichnet sich wieder durch spirituelles Streben aus. Die Keimzelle des RSS ist das Shakha, wo sich Mitglieder mehrmals am Tag oder pro Woche zu sportlichen Übungen und ideologischen Schulungen treffen. Gegenwärtig existieren über 25.000 Shakhas im gesamten Indien. Die Aktivitäten eines Shakha bestehen aus Yoga, Wettkämpfen, eingehender Diskussion sozialer Themen, Gebeten zu Mutter Indien und einer pädagogischen Unterweisung in Geschichte, Philosophie, Kultur und Ethik Indiens durch eine angesehene vom Shakha-Koordinator ausgewählte Persönlichkeit. Nachdem die RSS anfänglich ein parteipolitisches Engagement in der Demokratie ablehnte, gehört die Schulung von Politikern inzwischen zu ihren Hauptaufgaben. Hindutva ist damit eine Gegenbewegung zum säkularen Staatsmodell, das von Mohandas Gandhi als Lösung für die religiösen Konflikte, hauptsächlich zwischen Muslimen und Hindus, gesehen wurde und heute in der Verfassung verankert ist. Viele Hindus ebenso wie Nicht-Hindus, z. B. Muslime und Christen, lehnen deswegen die Hindutva-Bewegung ab. Zu diesem inneren Konflikt gesellt sich die Gefahr des aus dem Westen importierten Materialismus ohne spirituelle Basis. Indien als bewusst werdende Kollektivseele steht vor der großen Herausforderung, sein eigenes Dharma zu finden und auf dessen Basis sein nationales Leben neu zu gestalten, um seine Rolle als Führer der Menschheit auszufüllen.

Bei der Geschichte der Entstehung der albanischen Nation[41] als einer Kollektivseele denken wir vor allem an Themen wie Frage der albanischen Ethnogenese, Skanderbeg, Osmanenherrschaft, Rilindja, Unabhängigkeitserklärung und Londoner Botschafterkonferenz 1912/1913, Zogu-Herrschaft, Enver Hoxha-Diktatur, Kosova-Frage, Kosova-Krieg 1998/1999 und Kosovas Unabhängigkeitserklärung 2008. Wir wollen hier zusammenfassend nur auf das erste Thema eingehen.[42] Die drei Haupttheorien zur albanischen Ethnogenese sind: die Illyrische Theorie der Abstammung des Albanischen vom Illyrischen bzw. der Autochthonie der Albaner als Nachkommen der Illyrer; die Thrakische Theorie der Abstammung des Albanischen vom Thrakischen bzw. der Zuwanderung der thrakischen Vorfahren; die Balkansubstrat-Theorie der Abstammung des Albanischen weder vom Illyrischen noch vom Thrakischen bzw. seiner Entwicklung aus einer anderen, unbekannten altbalkanischen Sprache. Gemäß Joachim Matzinger hätten Untersuchungen in der Historischen Sprachwissenschaft gezeigt, dass das Albanische gemeinsam mit dem Griechischen, Phrygischen und Armenischen zum Balkanindogermanischen, einer indogermanischen Subgruppe, gehöre. Diese vorhistorische Kommunikationsgemeinschaft in einem balkanischen Konvergenzareal, dem wahrscheinlich auch die bekannten altbalkanischen Idiome wie Illyrisch, Dakisch und Thrakisch angehört hätten, sei so benannt worden, weil die Mehrzahl dieser Sprachen in historischer Zeit auf dem Balkan oder in seiner geographischen Nachbarschaft bezeugt gewesen sei. Die Frage nach der Herkunft des Albanischen verschiebe sich demnach auf eine noch viel frühere Zeitstufe. Die Historische Sprachwissenschaft gebe eine zuverlässige Antwort auf die Frage nach der Abstammung der Albaner und der Herkunft des Albanischen. Die Albaner in ihren historisch dokumentierten Wohnsitzen seien nach Ausweis der Toponymie Albaniens Zuwanderer aus dem inneren Balkan.[43] Der albanische Sprachwissenschaftler, Übersetzer und Philosoph Petro Zheji[44] hingegen meint, Albanisch sei die einzige überlieferte symbolische Sprache, deren Symbole es ermöglichten, jedes Wort einer jeden Sprache zu zerlegen und dessen motivierende Bedeutung herauszufinden. Wenn Zheji daraus schlussfolgert, Albanisch sei die Muttersprache des Sanskrits und aller anderen Sprachen der Welt, dann geht er zu weit, weil er sich nur auf die schriftlich überlieferte Form des Sanskrits bezieht und den mündlichen Ursprung dieser Sprache aller Sprachen nicht kennt. Albanisch mag eine nahe Verwandte des Sanskrits sein, unter den lebenden Sprachen vielleicht seine nächste Verwandte. Aber Sanskrit ist und bleibt die Mutter aller Sprachen. Doch in seinem zukunftsweisenden spirituell-mystischen Ansatz einer neuen Wissenschaft liegt Zheji völlig richtig und ist einer der westlichen Pioniere auf diesem Gebiet.

Wenn man die Geschichte der Inder und Albaner vergleicht, so entdeckt man einige interessante Parallelen, die hier nur kurz angedeutet werden können. Sowohl Indien als auch Albanien haben eine jahrhundertelange koloniale Vergangenheit. Weder Indien noch Albanien haben jemals ein anderes Land angegriffen. In beiden Ländern untergraben Turbokapitalismus, Korruption, Brain-Drain und der aus dem Westen importierte Materialismus ohne spirituelle Basis das nationale Leben. Ibrahim Rugovas Gandhismus in Kosova führte in die Sackgasse, weil die serbische Regierung auf eine gewaltsame Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung setzte. Die Befreiungsarmee von Kosova (UÇK) war der Ausweg aus dieser Sackgasse, der Weg des unvermeidlichen Kampfes, wie er in der Bhagavad Gita, dem heiligen Buch der Hindus, aufgezeigt wird. Die Vergeltungsaktionen von UÇK-Kämpfern gegen Serben und Roma nach dem Krieg bedeuteten allerdings das Verlassen des Pfads des legitimen Kampfes um Freiheit und Unabhängigkeit. Der Hinduismus ist eine unorganisierte Religion der Vielfalt in der Einheit und hat daher 5000 Jahre überlebt. Der indische Mystiker Sri Ramakrishna des 19. Jahrhunderts probierte alle drei großen Weltreligionen – Hinduismus, Christentum und Islam – aus und fand auf allen drei Wegen Gott. Auch Albanien ist ein Beispiel der jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz von Katholiken, Muslimen, Orthodoxen und Bektaschi. So wie die Inder müssen auch die Albaner noch ihr eigenes Dharma, d. h. ihre eigene innere Bestimmung finden. Dabei ist vor allem die spirituelle Avantgarde aller Konfessionen und erleuchteten Individuen zur Schaffung von Lichtzentren der kollektiven Bewusstseinsentwicklung gefragt, so wie einst die in der mystischen Tradition des Sufismus stehenden Bektaschi um die Frashëri-Brüder die Vorreiterrolle für die Rilindja übernommen haben. Die junge albanische Nation zeichnet sich durch eine große Vitalität aus. Aber erst, wenn sie diese kostbare Lebenskraft nicht mehr in den Dienst des kollektiven Egos stellt, sondern um das noch zu entdeckende kollektive Seelische Wesen zentriert, kann sie ihre eingeborene und unverwechselbare Rolle für die spirituelle Vereinigung Europas und der Welt spielen. Albanien und Indien verbindet auch die Tatsache der Teilung der Nation. Was die jeweilige Motivation betrifft, gibt es dabei einen fundamentalen Unterschied: die indische Teilung erfolgte von innen aufgrund des Gegensatzes zwischen Hindus und Muslimen; die albanische Teilung erfolgte von außen aufgrund der Abstimmung der Großmachtinteressen. Pakistan und Bangladesch, das ehemalige Ostpakistan, sind innerlich mit der indischen Seele verbunden, daher wird es früher oder später zu ihrer Wiedervereinigung mit Mutter Indien kommen. Jeder Patriot fühlt die Seele hinter seiner Nation, seinem Land. Man kann diese Kollektive Seele wahrnehmen, aber nicht definieren, weil sie jenseits des Mentals liegt. Wenn die Kollektivseele im Inneren existiert, dann sucht sie sich einen Weg der Manifestation im Äußeren. Daher ist die zukünftige Entwicklung der Albanischen Frage noch offen: werden wir nach zwei bis drei Generationen eine einzige albanische oder eine albanische und eine kosovarische Nation haben? Falls hinter den Kosovaren schon eine Kollektivseele zur Manifestation bereitsteht, werden wir in einigen Jahrzehnten zwei albanischsprachige Nationen haben, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich der Fall gewesen ist. Falls Kosova innerlich mit der albanischen Seele verbunden bleibt, wird es auch da früher oder später zur Wiedervereinigung mit Mutter Albanien kommen. Das Gleiche gilt für die restlichen mehrheitlich von Albanern besiedelten Gebiete, welche an Albanien und Kosova angrenzen. Wenn es eine Seele gibt, individuell und kollektiv, wovon hier ausgegangen wird, dann wird sie eines Tages hervortreten und die Zügel des Handelns in die Hand nehmen. Dann ist es nur mehr eine Frage der Zeit, von Jahrzehnten oder Jahrhunderten, bis sich äußerlich – auf welche Art und Weise auch immer – zusammenfindet, was innerlich seit jeher verbunden ist.

Um den Beginn des Vergleichs der Albanischen Frage mit der Indischen Frage im Lichte des Integralen Yogas von Sri Aurobindo vertiefend weiterführen zu können, müssen zuvor die relevanten Phasen der albanischen Nationsbildung im Sinne des Bewusstseinswachstums der Kollektivseele und der Entwicklung ihrer mentalen und vitalen Wesensteile unter Berücksichtigung der beschleunigenden Beteiligung herausragender spiritueller Persönlichkeiten in langfristigen Einzelstudien herausgearbeitet werden.

 

Veröffentlicht in: Die Sonne 11 (2020), Nr. 40, S. 8-11; Nr. 41, S. 9-14; Nr. 42, S. ?.

http://www.dielli-demokristian.at/de/ausgaben.html.



[1] Hier einige der wichtigsten diesbezüglichen Publikationen: Eric Hobsbawm, Eric (1991): Nations and Nationalism Since 1780: Programme, Myth, Reality. Cambridge University Press. (dt.: Eric Hobsbawm, Eric (1991): Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main/New York: Campus.); Benedict Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso Editions. (dt.: Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein.); Ernest Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism. Ithaca: Cornell University Press. (dt.: Ernest Gellner, Ernest (1991): Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch.); Hroch, Miroslav (2005): Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. (engl.: Hroch, Miroslav (2015): European Nations: Explaining Their Formation. London: Verso.).

[2] Jung, Carl Gustav (1993): Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Gesammelte Werke 9/I. Ostfildern: Patmos.

[3] Aurose, Wolfgang J. (2014): Die Seele der Nationen. Evolution und Heilung. München, Berlin: Europa Verlag.

[4] Siehe Wilber, Ken (1996): A Brief History of Everything. Boulder: Shambhala; Wilber, Ken (1998): The Marriage of Sense and Soul: Integrating Science and Religion. New York: Random House; Hawkins, David Ramon (2003): I – Reality and Subjectivity. Sedona: Veritas; James, William (1902): The Varieties of Religious Experience. New York/London: Longmans, Green & Co.

[5] Van Vrekhem, Georges (2014): Über den Menschen hinaus: Leben und Werk von Sri Aurobindo und Mutter. Grafing: Aquamarin, S. 84 f..

[6] Sri Aurobindo Birth Century Library. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram. Set in 30 Volumes (SABCL);
The Complete Works of Sri Aurobindo.
Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram. Set of 37 Volumes (CWSA)
; Collected Works of the Mother (CWM). Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram. Complete edition in 17 Volumes; Mother’s Agenda 1951-1973 (1979-1983). 13 Volumes. Institute de Recherches Évolutives; Georges Van Vrekhem, Georges (2014): Über den Menschen hinaus: Leben und Werk von Sri Aurobindo und Mutter. Grafing: Aquamarin; Rishabhchand (1981): Sri Aurobindo: His Life Unique. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram; Evolution Fast-forward, 3 parts: Part 1, Vision & Work of Sri Aurobindo & The Mother = https://www.youtube.com/watch?v=QpKxR5rCjyQ; Part 2, Integral Yoga of Sri Aurobindo = https://www.youtube.com/watch?v=1tFtHPA87ZM; Part 3, Parts of the Being & Planes of Consciousness = https://www.youtube.com/watch?v=XLxfP9pG8yI.

[7] Sri Aurobindo (1970): Letters on Yoga I. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram, Kap. „The Purpose of Avatarhood“, S. 401-430; Van Vrekhem (2014), S. 6-11, 55 f., 119-122, 126-136.

[8] Sri Aurobindo (2003): The Future Evolution of Man. The Divine Life upon Earth. Compiled with a Summary and Notes by P. B. Saint-Hilaire. Twin Lakes: Lotus Press. (alb.: Shri Aurobindo (2014): Evolucioni i ardhshëm i njeriut. Jeta hyjnore në Tokë. Vetëbotim; mit einer ausführlichen Einführung des Herausgebers und Übersetzers Kurt Gostentschnigg in übersetzerische und terminologische Probleme sowie in Leben und Werk des Autors.); The Psychic Being (1999): Soul: Its nature, mission and evolution. Selections from the works of Sri Aurobindo and The Mother. Twin Lakes: Lotus Press. (alb.: Qenia Psikike (2014): Shpirti: natyra, misioni dhe evolucioni i tij. E përpiluar nga veprat e Shri Aurobindos dhe e Nënës. Vetëbotim; mit einer ausführlichen Einführung des Herausgebers und Übersetzers Kurt Gostentschnigg in übersetzerische und terminologische Probleme sowie in Leben und Werk der Autoren.); Our Many Selves (2002): Practical Yogic Psychology. Selections from the works of Sri Aurobindo and the Mother. Compiled with an Introduction by A. S. Dalal. Twin Lakes: Lotus Press; CWSA, Vol. 25: The Human Cycle and The Ideal of Human Unity.

[9] Siehe zu Folgendem Our Many Selves (2002), S. xix-xxxv u. 11-103.

[10] Sri Aurobindo (1970): The Synthesis of Yoga. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram, S. 395; hier und in der Folge vom Autor Kurt Gostentschnigg aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

[11] Sri Aurobindo (1989): The Supramental Manifestation. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram, S. 41 f..

[12] Sri Aurobindo (1970): The Life Divine. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram, S. 278 f..

[13] Ein Mensch, der sich um Selbstverwirklichung bemüht, indem er Sadhana (Sanskr. Sādhanā) oder Yoga praktiziert.

[14] Sri Aurobindo (1970): Letters on Yoga I, S. 244.

[15] Sri Aurobindo (1970): The Life Divine, S. 946 f..

[16] Ebda, S. 944.

[17] Ebda, S. 944.

[18] Ebda, S. 733 f..

[19] Ebda, S. 550.

[20] Siehe zu Folgendem The Psychic Being (1999), S. 3-44, und Our Many Selves  (2002), S. 79-103.

[21] Der sichtbare physische Körper, der vom unsichtbaren physischen Körper, dem Feinstofflichen oder Subtilen Körper, mit Energie versorgt wird.

[22] Rishabhchand (1981), S. 193.

[23] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 35; die deutschsprachigen Formulierungen folgen der Übersetzung Sri Aurobindo (1992): Zyklus der menschlichen Entwicklung. Mirapuri.

[24] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 73.

[25] CWSA. Vol. 25: The Ideal of Human Unity, S. 290 f.; die deutschsprachigen Formulierungen folgen der Übersetzung Sri Aurobindo (1982): Das Ideal einer geeinten Menschheit. Gladenbach: Hinder u. Deelmann.

[26] CWSA. Vol. 25: The Ideal of Human Unity, S. 302.

[27] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 67.

[28] Ebda, S. 255.

[29] Ebda, S. 263.

[30] CWSA. Vol. 25: The Ideal of Human Unity, S. 562.

[31] Ebda, S. 587.

[32] Ebda, S. 304.

[33] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 57.

[34] Ebda, S. 210.

[35] Ebda, S. 220 f..

[36] Zur Geschichte Indiens siehe Daniélou, Alain (2003): A Brief History of India. Rochester: Inner Traditions; Reddy, Krishna (2003): Indian History. New Delhi: Tata McGraw Hill; Robb, Peter (2004): A History of India. London: Palgrave Mcmillan; Kulke, Hermann; Rothermund, Dietmar (2006): Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. München: Beck; Ludden, David (2006): Geschichte Indiens. Essen: Magnus; Mann, Michael (2005): Geschichte Indiens vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh; Wilken, Klaus (2009): Indien in Geschichte und Gegenwart. Rostock: Baltic Sea Press.

[37] Zu den folgenden Ausführungen siehe CWSA. Vol. 20: The Renaissance in India; CWSA. Vol. 35: Letters on Himself and the Ashram. Autobiographical Notes.

[38] Ein indischer Philosoph und Theologe, der um 800 n. Chr. die Philosophie des Advaita Vedanta begründete.

[39] CWSA. Vol. 35: Letters on Himself and the Ashram. Autobiographical Notes, S. 469.

[40] Bangladesch ist der ehemalige Landesteil Ostpakistan und seit dem Bangladesch-Krieg von 1971 unabhängig.

[41] Siehe dazu Skendi, Stavro (1967): The Albanian national awakening, 1878-1912. Princeton University Press; Bartl, Peter (1995): Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg: Pustet; Hoxhaj, Enver (2006): Mythen und Erinnerungen der albanischen Nation – Illyrer, Nationsbildung und nationale Identität. In: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik 20, S. 47–76; Clewing, Konrad (2006): Religion und Nation bei den Albanern. Von Anspruch und Wirkungsmacht eines Religionen übergreifenden Nationenkonzepts. In: Mosser, Alois (Hg.): Politische Kultur in Südosteuropa. Identitäten, Loyalitäten, Solidaritäten. Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 147-182; Clayer, Nathalie (2007): Aux origines du nationalisme albanais: la naissance d'une nation majoritairement musulmane en Europe. Paris: Karthala; Schmitt, Oliver Jens (2012): Die Albaner: Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident. München: Beck.

[42] Siehe dazu ausführlich Gostentschnigg, Kurt (2016): Die Diskussion der Frage der albanischen Ethnogenese. Ein historischer Abriss. In: Eckehard Pistrick (Hg.): Deutsch-Albanische Wissenschaftsbeziehungen hinter dem Eisernen Vorhang. Wiesbaden: Harrassowitz. (= Albanische Forschungen 39), S. 51-74; Matzinger, Joachim (2009): Die Albaner als Nachkommen der Illyrer aus der Sicht der historischen Sprachwissenschaft. In: Frantz, Eva Anne; Schmitt, Oliver Jens (Hg.): Albani­sche Geschichte. Stand und Perspektiven der Forschung. München: Oldenbourg, S. 13-36.

[43] Gostentschnigg (2016), S. 71 f..

[44] Zheji, Petro (2005-2006): Shqipja dhe Sanskritishtja. 1 dhe 2. Tirana: Tertiumdatur; Zheji, Petro (2015): Roli mesianik i shqipes: shembja e kullës së Babelit. Tirana: UET Press; Zheji, Petro (2012): Libri i aforizmave. Tirana: Media Print.

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