Die Nation als Kollektive Seele
Kurt Gostentschnigg
Die Nation als Kollektive Seele.
Der Beginn eines Vergleichs der Albanischen Frage mit der
Indischen Frage im Lichte des Integralen Yogas von Sri Aurobindo
Dieser Aufsatz behandelt die Frage der Nation erstmals aus einer
spirituellen Perspektive, nämlich im Lichte des Integralen Yogas des indischen
Mystikers und Philosophen Sri Aurobindo, und versucht einen Vergleich der
Albanischen Frage mit der Indischen Frage. Es handelt sich hier um eine skizzenhafte
Herausarbeitung von ausgewählten Aspekten, nachdem die Erforschung der
komplexen Ausprägung der raumzeitlichen Manifestation einer nationalen
Kollektivseele in all ihren vielfältigen Facetten nur durch eine Synthese von
zahlreichen langfristigen Detailstudien erfolgen kann. Zunächst wird eine kurze
Einführung in die akademische Nationsforschung und das Konzept des Kollektivs
geboten, bevor die für unser Thema relevanten Inhalte von Sri Aurobindos
Integralem Yoga in zusammengefasster Form vorgestellt werden.
Die geschichtswissenschaftliche Fachliteratur zur Frage der Entstehung von
Nationen ist äußerst reichhaltig.[1]
Da es dabei um das Selbstverständnis der Menschen geht, hat der Begriff der
Nation von vornherein einen subjektiven Charakter. Er geht auf lat. natio in der Bedeutung „Volk, Sippschaft, Menschenschlag,
Gattung, Klasse, Schar“ zurück, welches sich vom Verb nasci in der
Bedeutung „geboren werden“ ableitet, und bezeichnet größere Gruppen oder Kollektive von
Menschen, denen gemeinsame Merkmale wie Sprache, Tradition, Sitten, Bräuche, gemeinsamer Siedlungsraum oder gemeinsame Abstammung zugeschrieben werden. Die Geschichtswissenschaft, die Nation von
Volk und Staatswesen unterscheidet, bezeichnet die zugeschriebenen kulturellen
Eigenschaften als den Nationalcharakter eines Volkes. Nation ist für sie ein
Konstrukt, das von seiner diskursiven Reproduktion und materiellen Effizienz
lebe. Indem Menschen sich handelnd auf das Konzept der Nation beziehen, werde
es für die Beteiligten und Betroffenen wirksam. Die Geschichtswissenschaft
unterscheidet zwischen drei Nationstypen: Kulturnation,
Staatsnation und Willensnation. Die Kulturnation
ist eine ethnische Nation bzw. eine Gemeinschaft von Menschen, die sich durch
Sprache, Tradition und Religion miteinander verbunden fühlen. Ihr
Nationalgefühl beruht also auf einer gemeinsamen Kultur, oft auch auf einer
gemeinsamen Abstammung, und ist nicht auf staatliche Grenzen angewiesen. Das
Zusammengehörigkeitsgefühl einer Kulturnation kann zeitlich der Gründung eines
Nationalstaats vorausgehen. Beispiele dafür sind Italien und Deutschland. Die Staatsnation hingegen beruht auf
dem Willen der Staatsbürger und deren gemeinsamen politischen Werten. Als
Musterbeispiel dafür gilt Frankreich, dessen Nation nach der Französischen
Revolution aus einer ethnisch sehr heterogenen Bevölkerung entstanden ist,
welche ihr Gemeinschaftsgefühl durch das gemeinsame Bekenntnis zu den Idealen
der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fand. Nicht so leicht vom Konzept
der Staatsnation zu unterscheiden ist der Begriff der Willensnation, welche aus
Bevölkerungsgruppen besteht, die sich ethnisch, sprachlich, religiös und
aufgrund ihrer Mentalität oder historischen Erfahrung mehr oder weniger stark
unterscheiden. Der von ihr errichtete Staat ist nicht durch ethnische
Gemeinsamkeit ihrer Bürger geprägt, sondern allein durch den Willen der Bürger
nach einem gemeinsamen Staatswesen. Beispiele dafür sind die Schweiz, die USA
und Kanada.
Aber ist das wirklich alles, was ein so großes Kollektiv wie eine Nation
ausmacht und – ungeachtet aller Krisen, Katastrophen und Schicksalsschläge –
über lange Zeiträume zusammenhält? Der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav
Jung führte im Westen den Begriff des „kollektiven Unbewussten“[2] ein, das eine allen Menschen gemeinsame Grundlage psychischer Funktionen
bilde. Selbst die Strukturen des Ich würden sich demnach auf der Basis von
Strukturen des kollektiven Unbewussten entwickeln. Jung beruft sich vor allem auf archetypische Bilder in Vorstellungen,
Emotionen und Träumen und auf Motive in Religionen, Mythen und
Märchen, welche auf eine ähnliche
psychische Grundlage aller Menschen schließen ließen. Der deutsche Publizist
Wolfgang J. Aurose ist einer der seltenen westlichen Autoren, der von einer
„Seele der Nation“ spricht, indem er sich nicht nur auf die deutschen
Idealisten und Romantiker beruft, sondern auch auf Jung und integrale Vordenker
wie Sri Aurobindo, Jean Gebser und Ken Wilber.[3] An den Fallbeispielen Deutschland, USA und EU versucht er, die
Evolution von Nationen als Kollektivseelen aufzuzeigen und Modelle zur
seelischen Integration und Heilung eines Landes vorzustellen. Trotz der Fülle
an interessanten Detailinformationen ist es eine im Allgemeinen zu komplizierte
Abhandlung, die sich auf verschiedene psychologische und philosophische Systeme
sowie spirituelle Richtungen stützt, deren unterschiedliche Definitionen und
Terminologien beim Leser Missverständnis und Verwirrung verursachen können.
Ken Wilber und andere Protagonisten des integralen Denkens haben längst die
wissenschaftliche Nachweisbarkeit mystischer/yogischer bzw.
seelisch-spiritueller Erfahrungen intellektuell nachvollziehbar argumentiert,
indem sie die in allen Kulturen, Zeiten und Umständen existierenden
Gemeinsamkeiten solcher innersten Erfahrungen aufgezeigt haben.[4]
Wenn du dich selbst erkennst, erkennst du die Welt und Gott, weil du selbst die
Welt und Gott bist. Das ist die gemeinsame Essenz der westlichen Mystik und des
östlichen Yogas. Eines muss jedoch klar sein: Mystik oder Yoga ist kein objektives
Feld für intellektuelle Argumentation oder wissenschaftliche Erklärbarkeit.
Yoga bedeutet subjektive Erfahrung und Wandel im Bewusstsein. Eine rein mentale
Aktivität führt nur zu einem Wandel des Verstands. Und der Verstand ist nur
eine untere Stufe der unendlichen Stufenleiter des Bewusstseins. Wenn man aber
selbst noch keine spirituellen Erfahrungen hat, ist das kein plausibler Grund,
die Möglichkeit und den Wert von spirituellen Erfahrungen anderer Menschen
nicht in Betracht zu ziehen.
Alle spirituellen/mystischen/yogischen Erfahrungen kommen zu dem
gleichen grundlegenden Ergebnis: das höchste, tiefste, ewige und unendliche Geheimnis ist
die Liebe. Dieses undenkbare und unaussprechliche Geheimnis kann man höchstens
symbolisch ausdrücken, wie durch das Sinnbild Viel-Eine Sonne der Liebe, d. h. viele Sonnen in der einen Sonne
der Liebe. Die Liebe ist das Göttliche Wesen, Gott, die Einheit. Die Einheit
enthält die Vielheit. Daher können wir vom Göttlichen als der Eine und die
Vielen sprechen. Die Einheit enthält auch das Sein und das Werden. Die Vielheit
wiederum enthält das Individuelle und das Kollektive. Die Einheit ist also in
ihren vier Grundaspekten Sein, Werden, Individuum und Kollektiv. Die Einheit
ist die Basis der Vielheit und somit das Höhere und die Ursache und das Ziel
von allem. Der Eine und die Vielen entfalten als Kosmische Seele sowie
Individuelle und Kollektive Seelen die unendlichen Möglichkeiten des
suprakosmisch-transzendenten Seins im kosmisch-immanenten Werden. Auf den
Ebenen des zeit- und raumlosen Seins sind wir immer im Bewusstsein der Einheit.
Auf den Ebenen des raumzeitlichen Werdens werden wir uns schrittweise unserer
verlorenen Einheit bewusst. Warum gibt es überhaupt ein Werden, eine Evolution,
eine Entwicklung in Raum und Zeit? Weil sich einige der Vielen in ihrer
Freiheit der unendlichen Möglichkeiten aus dem zeit- und raumlosen Sein in die
Erfahrung der räumlichen und zeitlichen Trennung bis in die Unbewusstheit
gestürzt haben und die Göttliche Mutter ihnen hinterhergeeilt ist, um durch die
göttliche Allgegenwart den Wiederaufstieg der verkörperten Seelen und der
gesamten materiellen Schöpfung bis zum höchsten Bewusstsein zu ermöglichen.[5]
Und warum steigt das Göttliche selbst als Avatar in einer physischen
Verkörperung zu uns Menschen herab? Um der Menschheit in Zeiten des schwierigen
Übergangs und der allgemeinen Krise zu helfen und den Weg für den Sprung des
menschlichen Bewusstseins auf die nächsthöhere Stufe der spirituellen Evolution
zu öffnen.
Der von Sri Aurobindo und Mira Alfassa, genannt Die Mutter, auf der
Basis ihrer eigenen spirituellen Erfahrungen entwickelte Integrale Yoga[6] zur Verwirklichung des Göttlichen Lebens auf Erden bietet
dem Leser nicht nur eine nachvollziehbare Anleitung zur Beschreitung dieses
spirituellen Pfades, sondern auch ein allumfassendes philosophisches System mit
der größten Vision und reichhaltigsten Terminologie. Je nach Stand der Bewusstseinsentwicklung
erkennt der Leser Sri Aurobindo und Die Mutter als Philosophen, Yogis/MystikerInnen
oder der Zwei-Eine Avatar[7]/Inkarnationen des Göttlichen auf Erden. Alle traditionellen Yoga-Wege
wie Bhakti-Yoga, der Weg des Herzens, Jnana-Yoga, der Weg des Wissens, und
Karma-Yoga, der Weg des Handelns, bleiben bei der individuellen Verwirklichung
des göttlichen Selbst und bei der Flucht vor der Welt in ein Leben im Himmel
oder im Nirvana stehen, während zum ersten Mal der Integrale oder Purna Yoga als
ein spirituelles Abenteuer weit darüber hinausgeht und in einer bedingungslosen
Hingabe des Individuums die Herabkunft der göttlichen Kraft oder Shakti auf die
Bewusstseinsebenen des Mentals, Vitals und der Materie anstrebt, um das gesamte
irdische Leben in einer supramentalen Transformation zu vergöttlichen.
Für unser Generalthema von Bedeutung sind Sri Aurobindos und Mutters
Aussagen über die universalen Bewusstseinsebenen, die Wesensteile des Menschen
und das kollektive Wesen.[8] Bei der Organisation der Teile des Wesens gibt es zwei
Systeme, welche gleichzeitig aktiv und miteinander verbunden sind: ein
vertikales System und ein konzentrisches System.[9] Das vertikale System ist wie eine Stufenleiter, die aus
verschiedenen Bewusstseinsebenen besteht, angefangen von der niedrigsten, dem
Unbewusstsein, bis zur höchsten, dem Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda (sanskr. sat-cit-tapas/śakti-ānanda). Die Höhere Hemisphäre, das Königreich des vollkommenen
und ewigen Geistes, wird durch die Vermittlerebene des Übermentals, welche auch
einige andere vermittelnde Ebenen miteinschließt, von der niederen Hemisphäre
getrennt, wo der Geist von Mental/Verstand, Vital/Leben und Materie/Physis/Körper
bedeckt ist. Die Höhere Hemisphäre und die Vermittlerebenen bilden gemeinsam
das Überbewusstsein, das aus den höheren Bewusstseinsebenen über dem
gewöhnlichen Verstand besteht, von wo das Höhere Bewusstsein in die niederen
Ebenen des Wesens herabsteigt, um langsam aus dem mentalen Halbtier den
spirituellen Menschen zu entwickeln. Das
Überbewusstsein umfasst die Ebenen jenseits des Mentals, d. h. die Höchste
Wirklichkeit, bezeichnet als Satchittapasananda, Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit,
und das Supramental sowie – in absteigender Reihenfolge – die höheren Ebenen
des Mentals, d. h. das Übermental, das Intuitive Mental, das Erleuchtete Mental
und das Höhere Mental.
Das Eine Göttliche Wesen hat vier Aspekte: Sein (Sat), Bewusstsein (Chit),
Kraft (Tapas/Shakti) und Glückseligkeit (Ananda). Das Göttliche, das Höchste
Wesen, von dem alle und alles kommen, in dem alle und alles sind und zu dem
alle und alles zurückkehren, ist Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit (Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda).
Es manifestiert sich als unendliche Existenz, deren Essenz das Bewusstsein mit
seiner innewohnenden Kraft ist. Die Essenz des Bewusstseins ist Glückseligkeit,
Selbstfreude. „Satchittapasananda ist eine ewige Existenz, welche wir
dann sind; ein ewiges Bewusstsein, welches ihre Arbeiten in uns und anderen
betrachtet; ein ewiger Wille oder eine ewige Kraft jenes Bewusstseins, welche
sich in unendlichen Tätigkeiten ausdrückt; eine ewige Glückseligkeit, welche
sich an sich selbst und allen ihren Tätigkeiten erfreut. Es selbst als das
Höchste ist dauerhaft, unveränderbar, zeitlos, raumlos und ruhig in der
Unendlichkeit seiner Tätigkeiten, nicht veränderbar von ihren Veränderungen,
nicht getrennt von ihrer Vielheit, nicht vergrößert oder verkleinert von den
Fluten und Ebben in den Gewässern der Zeit und des Raums, nicht verwirrt von
ihren scheinbaren Widersprüchen oder begrenzt von ihren vom Göttlichen
beabsichtigten Begrenzungen. Satchittapasananda ist die Einheit der
Vielseitigkeit der manifestierten Dinge, die ewige Harmonie aller Variationen
und ihrer Gegensätze, die unendliche Vollkommenheit, welche ihre Begrenzungen
rechtfertigt und das Ziel ihrer Unvollkommenheiten ist.“[10]
Das Supramental ist das Wahrheitsbewusstsein, das Göttliche Wissen, die
höchste göttliche Bewusstseinskraft, welche im Universum wirkt. Es ist ein
Prinzip des Bewusstseins, das, über dem Mental liegend, in der grundlegenden
Wahrheit und Einheit der Dinge existiert und wirkt und nicht wie das Mental in
ihren phänomenalen Manifestationen und Trennungen. Sein fundamentaler Charakter
ist Wissen durch Identität, durch welches das Selbst, das göttliche
Sein-Bewusstsein-Kraft-Glückseligkeit, Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda,
sowie die Wahrheit der Manifestation erkannt werden. Gemäß Sri Aurobindo bedeutet der Terminus „Supramental“
eine überbewusste Ebene des Wesens, welche sich nicht nur über dem Mental,
sondern auch jenseits desselben befindet, weil sie sich radikal davon
unterscheidet. Das Supramental ist jenseits und verschieden nicht nur bezüglich
des gewöhnlichen Mentals, sondern auch im Vergleich mit den überbewussten
Ebenen des Mentals, d. h. mit dem Höheren Mental, Erleuchteten Mental,
Intuitiven Mental und Übermental. Während alle diese überbewussten Ebenen des
Mentals Mischungen von Licht und Dunkelheit, von Wissen und Unwissenheit sind,
ist das Supramental das Wahrheitsbewusstsein ganz ohne Unwissenheit. „Das Supramental ist in seiner eigentlichen
Essenz ein Wahrheitsbewusstsein, immer frei von Unwissenheit, ein Bewusstsein,
welches das Fundament unserer aktuellen natürlichen oder evolutionären Existenz
ist, und von wo aus die Natur in uns sich bemüht, das Wissen über das Selbst
und die Welt sowie ein rechtes Bewusstsein und einen rechten Gebrauch unserer
Existenz im Universum zu erlangen. Das Supramental, da es ein
Wahrheitsbewusstsein ist, besitzt dieses innewohnende Wissen und diese Macht
der wahren Existenz. Sein Fluss ist gerade und kann direkt zu seinem Ziel
gehen. Sein Feld ist weit und kann sogar unbegrenzt werden, weil seine eigentliche
Natur Wissen ist. Es muss kein Wissen erlangen, sondern besitzt es in seinem
eigenen Recht. Seine Schritte sind keine aus der Unwissenheit in ein
unvollkommenes Licht, sondern aus einer Wahrheit in eine größere Wahrheit, aus
einer rechten Wahrnehmung in eine tiefere Wahrnehmung, aus der Intuition in die
Intuition, aus der Erleuchtung in das absolute und grenzenlose Strahlen, aus
den sich ausbreitenden Weiten in die eigentliche Unendlichkeit. Auf seinem
Gipfel besitzt es das göttliche Allwissen und die göttliche Allmacht. In seiner
stufenweisen evolutionären Bewegung der Selbstmanifestation, durch die es am
Ende die eigenen höchsten Höhen entdecken wird, muss es in seiner eigentlichen
Natur essentiell frei von Unwissenheit und Irrtum sein. Es bricht von der
Wahrheit und dem Licht auf und bewegt sich immer in der Wahrheit und dem Licht.“[11]
Zwischen dem Supramental und dem Mental gibt es höhere Stufen des Mentals,
welche sich über unserem normalen Mental befinden und zum Supramental führen.
Diese aufeinanderfolgenden Stadien, Ebenen oder graduellen Mächte des Wesens
sind in unseren überbewussten Teilen versteckt. In einer herabsteigenden
Ordnung sind es folgende Stufen des spiritualisierten Mentals: das Übermental
mit seinen vier Ebenen Supramentales Übermental, Eigentliches Übermental,
Intuitives Übermental und Mentales Übermental sowie die drei übermentalen
Kräfte Intuitives Mental, Erleuchtetes Mental und Höheres Mental, die den
Übergang zum Mental herstellen.
Während das Supramental das totale Wahrheitsbewusstsein ist, zieht die
Ebene des Übermentals als Gesandte des supramentalen Bewusstseins in der
kosmischen Unwissenheit die Wahrheiten in geteilter Form nach unten, indem sie
ihnen eine gesonderte Identität verleiht. Das Übermental ist „eine Leinwand der unähnlichen Ähnlichkeit,
durch die das Supramental in indirekter Weise auf eine Unwissenheit einwirken
kann, deren Dunkelheit den direkten Einfluss eines höchsten Lichtes nicht
ertragen oder erhalten könnte. Gerade die Projektion dieses leuchtenden
Übermentals ermöglicht die Diffusion eines verringerten Lichtes in die
Unwissenheit und das Werfen dieses gegenteiligen Schattens, des Unbewussten,
welcher das ganze Licht in sich verschlingt. Denn das Supramental überträgt
alle seine Wirklichkeiten auf das Übermental, überlässt es aber ihm, jene in
einer Bewegung zu formulieren und in Übereinstimmung mit einem Bewusstsein von
den Dingen, welches noch eine Vision der Wahrheit ist und dennoch gleichzeitig
der erste Elternteil der Ignoranz.“[12]
In einem Brief an einen Sadhak[13]
schreibt Sri Aurobindo: „…das Übermental kennt den Einen als die Stütze, die
Essenz und die fundamentale Macht aller Dinge, doch in seinem
charakteristischen dynamischen Spiel betont es seine trennende Macht der
Vielheit und versucht einer jeden Macht oder einem jeden Aspekt seine volle
Chance der Manifestation zu geben, indem es sich auf das grundlegende Einssein
stützt, um Disharmonie oder Konflikt zu vermeiden. Jede Gottheit, wie sie ist,
schafft sich ihre eigene Welt, aber ohne Konflikt mit den anderen. Jeder
Aspekt, jede Idee, jede Kraft der Dinge kann in der eigenen vollen gesonderten
Energie und Pracht gefühlt werden und die eigenen Werte ausarbeiten, ohne
Disharmonie zu schaffen, weil das Übermental den Sinn der Unendlichkeit besitzt
und in der wahren (nicht räumlichen) Unendlichkeit viele übereinstimmende
Unendlichkeiten möglich sind.“[14]
Die Intuition ist eine Bewusstseinsmacht, nahe und verwandt mit dem
ursprünglichen Wissen durch Identität. Was im Intuitiven Mental direkte intime
Vision ist, wird im Erleuchteten Mental zur Erleuchtung und im Höheren Mental
zum Denkwissen. Diese
wahre und authentische Intuition muss von einer Macht der mentalen Vernunft
unterschieden werden, welche sehr leicht damit verwechselt werden kann, von
jener Macht des involvierten Gedankengangs, welche ihre Schlussfolgerung mit
einem Sprung erreicht und keiner gewöhnlichen Schritte des logischen Verstands
bedarf. Denn Intuition bedeutet normalerweise die Macht des Verstehens der
Dinge in sofortiger Weise, ohne auf eine bewusste Argumentation angewiesen zu
sein. In diesem gewöhnlichen Sinne kann sich die Intuition auf einem Gefühl
gründen oder eine rasche unterbewusste Überlegung sein, basierend auf subtilen
Hinweisen, welche in bewusster Weise nicht zu verstehen sind. Doch Sri
Aurobindo verwendet den Terminus „Intuition“, welcher eine viel tiefere Konnotation
hat, in Verbindung mit der überbewussten Ebene unterhalb des Übermentals und
oberhalb des Erleuchteten Mentals. Das
Intuitive Mental „ist stets etwas, was
direkt aus einer versteckten Identität springt. Wenn sich das Bewusstsein des
Subjekts mit dem Bewusstsein im Objekt trifft, dann dringt es in dieses ein und
sieht, fühlt oder vibriert mit jener Wahrheit, welche es kontaktiert, dann
wirft sich die Intuition hinaus wie ein Funke oder Blitz von der Wucht der
Begegnung. Oder wenn das Bewusstsein, auch ohne ein solches Aufeinandertreffen,
in sich selbst hineinschaut und dort in direkter und intimer Weise die Wahrheit
oder die Wahrheiten fühlt, welche ihm innewohnen, oder die hinter dem äußeren
Anschein versteckten Kräfte kontaktiert, dann bricht ebenfalls ein intuitives
Licht aus. Oder wenn das Bewusstsein der Höchsten Wirklichkeit oder der
Spirituellen Wirklichkeit der Dinge und Wesen begegnet und vom Kontakt eine
Vereinigung mit derselben erlebt, dann leuchtet der Funke, der Blitz oder die
Flamme der intimen Wahrnehmung der Wahrheit in seinen Tiefen auf.“[15]
Das Erleuchtete Mental ist ein Mental des spirituellen
Lichts und der inneren Schau. Es ist ein spiritueller Sinn, der etwas von der
Substanz der Wahrheit erfasst. Sein Wirken, das vom Herabströmen eines
innerlich sichtbaren Lichts begleitet wird, kann bis zu einem gewissen Grad die
Wesensteile des Menschen vom Mental über das Vital bis in die Körperzellen
erleuchten. Denken ist hier nur eine untergeordnete Funktion, um das Geschaute
auszudrücken. „Die Klarheit der
Intelligenz, ihr ruhiges Tageslicht weicht oder unterwirft sich einem
intensiven Glanz und einer Erleuchtung des Geistes. Ein Spiel von Blitzen der
Wahrheit und Spirituellen Macht dringt mit Gewalt von oben in das Bewusstsein
und fügt der ruhigen und großen Erleuchtung und der weiten Herabkunft des
Friedens, welche die Aktion des höheren spirituellen Prinzips charakterisieren
oder begleiten, ein starkes Feuer der Verwirklichung und eine verzückende
Ekstase des Wissens hinzu.“[16]
Das Höhere Mental ist eine erste Ebene des Spirituellen
Bewusstseins, ein leuchtendes Denkmental, in welchem der Mensch dauerhaft und
engstens sich seines Selbst und des Einen bewusst wird und normalerweise mit
diesem Bewusstsein weiß und sieht. Sein Kennzeichen ist ein automatisches und
spontanes Erkennen kosmischen Charakters, eine Art Ganzheit der Wahrheitsschau
mit einem einzigen Blick und Denkformulierungen, eine wirksame Realisierung
seiner Wahrnehmungen durch die Selbstmacht der Idee. Dieses Denken ist kein
erworbenes Wissen, sondern die Selbstenthüllung ewiger Weisheit. Seine Ideen
werden in das Herz und Leben als eine Kraft eingepflanzt, die ausgearbeitet
werden soll. „So wie Macht des
spirituellen Höheren Mentals und seine Ideen-Kraft bei ihrem Eintritt in unsere
Mentalität modifiziert und verringert werden, reichen sie nicht aus, alle diese
Widerstände wegzufegen und ein supramentales Wesen zu erschaffen. Sie können
aber eine erste Umwandlung zuwege bringen, die einen weiteren Aufstieg und ein
machtvolleres Herabkommen ermöglicht. Sie können die weitere Integration des
Wesens in eine höhere Kraft von Bewusstsein und Wissen vorbereiten.“[17]
Obwohl getrennt und verschieden, sind das Mental, das Vital und die Physis
miteinander verbunden und wirken aufeinander ein, weshalb sie Anlass geben zu
unterscheidbaren Unterteilungen in diesen Hauptteilen des Wesens. Mental oder Verstand bedeutet besonders diesen Teil der
Natur, der mit Kenntnis und Intelligenz zu tun hat, mit Ideen, mentalen
Wahrnehmungen, Reaktionen des Denkens auf Dinge, mit wahrhaft mentalen
Bewegungen und Gestaltungen, mit Vision und mentalem Willen usw., welche Teil
der menschlichen Intelligenz sind. Das Gewöhnliche Mental besteht aus drei
Teilen: dem Eigentlichen Mental, dem Vitalen Mental und dem Physischen Mental. Das Eigentliche Mental wird in drei Teile unterteilt: das
Denkende Mental oder der Intellekt, beschäftigt mit Ideen und Wissen in sich
selbst; das Dynamische Mental, beschäftigt mit dem Hervorbringen von mentalen
Kräften zur Verwirklichung der Ideen; das Ausdrückende Mental, beschäftigt mit
dem Ausdruck der Ideen im Leben. Das Vitale
Mental oder der Wunschverstand ist eine Art Vermittler zwischen dem Vital und
dem Eigentlichen Mental. Seine Funktion besteht nicht darin, zu denken und zu
argumentieren, Dinge wahrzunehmen, zu prüfen, zu entdecken oder zu bewerten,
sondern zu planen, zu träumen oder sich vorzustellen, was getan werden kann.
Das Vitale Mental ist ein Mental des dynamischen Willens, Wirkens und Wünschens
und beschäftigt sich mit Genießen und Besitzen, Kraft und Anwendung, mit Freude
und Leid, Geben und Nehmen, Wachsen und Ausbreiten usw.. Das Vitale Mental ist
mit dem Vital vermischt, deshalb wird es nicht wie das Denkende Mental von der
Vernunft regiert, sondern von Impulsen und Wünschen des Vitals. Es versucht,
seine auf Impulsen und Wünschen des Vitals basierenden Taten zu rechtfertigen
und zu begründen. Das Physische
Mental beschäftigt sich nur mit physischen Dingen. Es wird begrenzt durch die
physische Sicht und Erfahrung der Dinge, mentalisiert die Erfahrungen des
Kontakts mit dem äußeren Leben und den Dingen und geht nicht jenseits
derselben. Das Physische Mental ist mit der Physis vermischt und nimmt Teil an
den Charakteristiken des physischen Bewusstseins wie Trägheit, Dunkelheit und
mechanische Wiederholung, welche sich im Physischen Verstand als mentale
Starre, Konservatismus, Zweifel und Zwangsgedanken manifestieren. Das Mechanische Mental, engstens verbunden mit dem Physischen
Mental, wiederholt nutzlos alles Geschehene. Sein Charakteristikum ist das
einer Maschine, die ständig weiterläuft, so oft Gedanken in ihr auftauchen.
Das Vitale Wesen oder die Natur des Lebens besteht aus Wünschen,
Empfindungen, Gefühlen, Leidenschaften, Impulsen, Energien des Wirkens und aus
dem ganzen Spiel der besitzergreifenden Instinkte und anderer damit verbundenen
wie Zorn, Angst, Begierde, Wollust usw.. Die Lebensenergie, Prana, welche den
Körper belebt, ist ein Aspekt des Vitals. Das
Vital besteht aus drei Hauptteilen: dem Höheren Vital, dem Mittleren/Eigentlichen
Vital und dem Niederen Vital. Das Höhere
Vital ist das Mentale Vital und das Emotionale Vital zusammengenommen. Das Mentale Vital verleiht den Emotionen, Wünschen,
Leidenschaften, Empfindungen oder anderen Bewegungen des vitalen Wesens einen
mentalen Ausdruck durch das Denken, Sprechen oder eine andere Weise. Das Emotionale Vital ist der Ort der verschiedenen
Gefühle wie (menschliche) Liebe, Freude, Kummer, Hass usw.. Das Mittlere Vital oder Eigentliche Vital ist dynamisch,
empfindsam und leidenschaftlich. Es ist der Ort der Wünsche und stärksten
vitalen Reaktionen wie Ehrgeiz, Stolz, Angst, Ruhmsucht, Anziehungen und
Abstoßungen, Wünsche und Leidenschaften aller Art. Außerdem ist es das Feld
vieler vitaler Energien. Das Niedere
Vital besteht aus den kleineren Bewegungen des Lebenswunsches und der
menschlichen Lebensreaktionen. Es beschäftigt sich mit den kleineren Wünschen
und Gefühlen wie Wunsch nach Nahrung, sexuellen Wünschen, Gefallen und
Missfallen, Prahlerei, Streitereien, Wunsch nach Lob, Wut und sonstigen kleinen
Wünschen jeglicher Art. Das Physische
Vital ist jener Teil des Vitals, der voll und ganz den physischen Dingen
zugewandt und mit Wünschen, Begierden und Verlangen nach Befriedigung auf
physischer Ebene erfüllt ist.
Das Physische Wesen ist nicht nur der Körper, sondern auch die ganze
materielle Natur. Der Körper
hat ebenfalls ein eigenes Bewusstsein, welches in den unwillkürlichen
Funktionen der verschiedenen körperlichen Organe und der verschiedenen
physiologischen Systeme wirkt. Das
Bewusstsein des Körpers ist nur ein Teil des Physischen Bewusstseins, welches
auch das Physische Mental und das Physische Vital miteinschließt. Die Vitale Physis, aufs Engste mit dem Physischen Vital
verbunden, ist Teil der vitalen Kraft, auf die sich das Nervliche Wesen
gründet. Sie ist das Mittel der nervlichen Antworten und hängt eng mit den
Reaktionen, Wünschen, Bedürfnissen und Empfindungen des Körpers zusammen.
Das Unterbewusstsein befindet sich unterhalb des bewussten Mentals und Vitals
und darf nicht mit dem Subliminal verwechselt werden, welches ein Inneres Bewusstsein
ist, weiter als das Oberflächliche oder Äußere Bewusstsein, und hinter
demselben angesiedelt. Das Unterbewusste ist ein niederes und reduziertes
Bewusstsein. Das Unterbewusstsein
des Individuums ist jener untergetauchte Teil seines Wesens, in welchem es kein
bewusstes, kohärentes, waches Denken, Wollen und Fühlen gibt, aber einen Teil,
der trotzdem in versteckter Weise die Eindrücke aller Dinge aufnimmt und
sammelt. Aus ihm können sich in Träumen oder im Wachzustand alle Arten von
gewohnten, hartnäckigen Reizen und Bewegungen erheben. Beim normalen Menschen
macht das Unterbewusste den Großteil des Vitalen Wesens sowie das Physische
Mental und das geheime Bewusstsein des Körpers aus. Das
Unterbewusstsein „deckt die rein
physischen und vitalen Elemente des Aufbaus unseres körperlichen Wesens ab,
nicht mentalisiert, in ihrem Wirken vom Verstand unbewacht und unkontrolliert.
Es inkludiert das schweigende dynamische okkulte Bewusstsein, von uns nicht
wahrgenommen, welches in den Zellen und Nerven und im gesamten physischen Stoff
wirkt und ihren Lebensprozess und die automatischen Antworten reguliert. Es
deckt ebenso jene niederen Funktionen des untergetauchten Wahrnehmungsmentals
ab, die im Tier und pflanzlichen Leben aktiver sind. In unserer Evolution haben
wir die Notwendigkeit eines breiteren organisierten Wirkens dieses Elements
hinter uns gelassen, aber es bleibt untergetaucht und dunkel in Bewegung
unterhalb unserer bewussten Natur. Diese dunkle Aktivität erstreckt sich in
einer versteckten mentalen Unterschicht, in welche die vergangenen Eindrücke
und all das, was vom Oberflächlichen Mental abgelehnt worden ist, versinken,
und in welcher dieselben latent aufbewahrt bleiben. Sie können sich von dort im
Schlaf oder in Abwesenheit des Mentals erheben, indem sie Traumformen,
Aktionsformen oder suggestive Formen des Mechanischen Mentals annehmen,
Reaktionsformen oder Formen des automatischen vitalen Impulses, Formen der
physischen Abnormalität oder der nervlichen Verwirrung, Formen der Morbidität,
Krankheit und des Ungleichgewichts. Aus dem Unterbewussten bringen wir
gewöhnlich so viel an die Oberfläche, wie unser waches Wahrnehmungsmental und
unsere Intelligenz für ihre Absichten benötigen. Indem wir diese Dinge so in
unser Wachbewusstsein bringen, sind wir uns nicht über ihre Natur, ihren
Ursprung und ihr Wirken bewusst und wir verstehen sie nicht in ihren Werten,
sondern durch eine Übersetzung in die Werte unserer wachen menschlichen
Wahrnehmung und Intelligenz. Doch das Auftauchen des Unterbewusstseins mit
seinen Effekten auf Verstand und Körper ist zum Großteil automatisch, ungerufen
und unwillkürlich, weil wir darüber nichts wissen und folglich keine Kontrolle
über das Unterbewusste haben.“[18]
Das Unbewusstsein ist der involvierteste Zustand des Überbewusstseins. Es
ist die niedrigste Ebene des Bewusstseins und befindet sich unterhalb des
Unterbewusstseins. Das Unbewusste ist in Wahrheit nicht ohne Bewusstsein, wie
es der Terminus zu verstehen geben könnte, sondern eine Bewusstseinsebene,
welche eine totale Involution des Bewusstseins repräsentiert, eine „inverse Reproduktion des höchsten
Überbewusstseins. Es besitzt die gleiche Absolutheit von Wesen und
automatischem Wirken, aber in einer unermesslichen Trance eingeschlossen, ein
Wesen, das sich in sich selbst verloren hat, das in seinen eigenen Abgrund von
Unendlichkeit gestürzt ist.“[19]
Die Evolution beginnt vom Unbewusstsein, woraus alle Mächte des
Überbewusstseins evolvieren und schrittweise hervorgehen, wobei die Materie die
erste Manifestation ist.
Das konzentrische System der Wesensteile des Menschen ist wie eine Reihe
von Kreisen oder Hüllen, welche aus dem Äußeren/Oberflächlichen Wesen, dem Inneren
Wesen und dem Innersten Wesen besteht.[20]
Das Äußere Wesen und das hinter ihm befindliche Innere Wesen, welches auch als
Subliminal bezeichnet wird, bilden unser phänomenales oder instrumentales Wesen
und gehören zur Natur, Prakriti (sanskr.
prakṛti). Sie
besitzen drei analoge Teile: einen physischen, einen vitalen und einen
mentalen. Das Innerste Wesen ist das Wahre Wesen, Purusha (sanskr. puruṣa).
Innerhalb des Purushas befindet sich ein Innerstes Mental, ein Innerstes Vital,
eine Innerste Physis und, in seinem eigentlichen Kern, das Seelische/Psychische
Wesen oder die Seele. Das
menschliche Wesen besteht also aus vier Hauptkomponenten, die folgendermaßen
bezeichnet werden: erstens das Zentrale Wesen oder der ewige Jivatman (sanskr. jīvātman) im überraumzeitlichen oder
suprakosmischen oder transzendenten Sein über uns; zweitens die Seele oder der göttliche Seelen-Funke, das
Seelische/Psychische Wesen und das Innerste Mentale, Vitale und Physische Wesen
im raumzeitlichen oder kosmischen oder immanenten Werden hinter uns; drittens das
Subliminal, d. h. das Innere Mentale, Vitale und Physische Wesen; viertens das
Äußere/Oberflächliche Mentale, Vitale und Physische Wesen.
Es gibt keine essentielle Verschiedenheit, denn alles ist grundlegend das
essentielle Göttliche. Die Verschiedenheit liegt in der Manifestation. Der
Atman (sanskr. ātman) ist der Eine,
der die Vielen stützt. Das Zentrale Wesen ist einer der göttlichen Vielen, die
auf dem Einen beruhen. Das Zentrale Wesen besteht aus der Dreiheit Jivatman – Seele/Seelenfunke
– Seelisches/Psychisches Wesen. Die beiden Aspekte des Zentralen Wesens oder
Jivatmans in der kosmischen Manifestation sind einerseits der Purusha oder die
spirituelle Essenz, d. h. der Seelenfunke und das Seelische/Psychische Wesen, und
andererseits die Prakriti oder die nichtspirituelle Natur, d. h. das Mental,
das Vital und die Physis. Der transzendente Jivatman ist ein ewiger Teil des
Göttlichen, d. h. eins mit ihm in der Essenz, und befindet sich über dem Kosmos
und dem Individuum als das Zentrale Wesen in seinem Sein. Er wird nicht geboren
und entwickelt sich nicht, sondern lenkt von oben die Geburt und die Evolution
des instrumentalen Wesens in Zeit und Raum. Daher ist der Jivatman das
Individuelle Selbst, die Spirituelle Person, das ewige Wesen des Menschen,
unser wahres innerstes Wesen. Wenn das Eine Göttliche seine ihm ewig
innewohnende Vielheit offenbart, dann wird der Atman oder Jivatman für die
Dauer dieser Offenbarung zum Zentralen Wesen, welches von oben über die
Entwicklung der Personalitäten und Formen des Lebens hier auf der Erde wacht,
aber selbst ein ewiger Teil des Göttlichen bleibt und der Manifestation in der
irdischen Welt vorausgeht.
Der Jivatman stellt auf allen Ebenen des
Bewusstseins einen Vertreter heraus, die folgendermaßen benannt werden: erstens
der Seelische Purusha oder Chaitya Purusha (sanskr. caitya puruṣa), die wahre Seelische Person;
zweitens der Mentale Purusha oder Manomaya Purusha (sanskr. manomaya puruṣa), die wahre Mentale Person;
drittens der Vitale Purusha oder Pranamaya Purusha (sanskr. prāṇamaya puruṣa), die wahre Vitale Person;
viertens der Physische Purusha oder Annamaya Purusha (sanskr. annamaya puruṣa), die wahre Physische Person. Die
Seele, der sogenannte Göttliche Funke in uns, befindet sich im „seelischen
Herzen“ hinter unserem emotionalen Herzen und wird im Laufe der Evolution zum
Seelischen/Psychischen Wesen oder Chaitya Purusha. Das Seelische/Psychische
Wesen befindet sich hinter dem Individuum als das Zentrale Wesen in seinem
Werden. Es ist das veränderliche kosmische Wesen des Menschen, dessen
Entwicklung aus dem Jivatman hervorgeht als sein direkter Vertreter in Zeit und
Raum. Es steht hinter der Entwicklung des Mentalen, Vitalen und Physischen
Wesens und stützt dieselben, während es sich selbst von Leben zu Leben
entwickelt, indem es die Essenz aller Erfahrungen in der Unwissenheit sammelt,
um einen Kern des seelischen Wachstums in der Natur zu bilden. Wenn die Seele
in Form des Seelischen/Psychischen Wesens ihre höchste Bewusstseinsebene, das Sat-Chit-Tapas/Shakti-Ananda, erreicht, dann verschmilzt sie mit dem
Jivatman, ihrem wahren, ewigen Individuellen Selbst, welches eins ist mit
Ishwara (sanskr. īśvara), dem Kosmischen Selbst, und
eins mit Purushottama (sanskr. puruṣottama), dem Transzendenten Selbst.
Das Subliminal ist das Innere Wesen in seiner Ganzheit des Inneren Mentals,
des Inneren Vitals und der Inneren Physis. Es ist in Kontakt mit den universalen
Ebenen des Verstands, des Lebens und der Materie. Die Seele oder die
Psychische/Seelische Entität – als ein Aspekt des Zentralen Wesens – stützt
diese inneren Wesen in ihrer Manifestation und entwickelt im Zuge der Evolution
eine Individualität, das Seelische/Psychische Wesen. Das Innere Wesen steht hinter dem Äußeren Mental, dem Äußeren
Vital und der Äußeren Physis. Das Subliminal im Menschen ist der weiteste Teil
seiner Natur und öffnet sich oben Richtung Überbewusstsein und unten Richtung
Unterbewusstsein und Unbewusstsein. Es ist also nicht unterbewusst, sondern
bewusst und größer als das gewöhnliche Wach- oder Oberflächenbewusstsein. Das
Unterbewusstsein befindet sich unterhalb des normalen physischen Bewusstseins,
während das Subliminal sich hinter ihm befindet und es stützt. Das Umweltwesen oder
Umweltbewusstsein ist ein Teil des Wesens, den eine jede Person um sich herum
trägt, außerhalb ihres Körpers, und mittels dessen sie mit anderen Personen und
den universalen Kräften in Kontakt ist.
Der Teil unserer Natur, dessen wir uns normalerweise bewusst sind, ist
unser „Ego“ genanntes Äußeres oder Oberflächliches Wesen. Es besteht aus der
Äußeren Physis oder dem Grobstofflichen Körper[21],
verbunden mit der materiellen Welt; aus dem Äußeren Vital oder dem Leben,
verbunden mit der Lebensenergie und den Emotionen, Wünschen, Leidenschaften
usw.; und aus dem Äußeren Mental oder dem Verstand, verbunden mit der
Erkenntnis, Intelligenz, den Ideen, mentalen Wahrnehmungen usw..
Wir können davon ausgehen, dass Sri Aurobindos Aussagen über die
Individuelle Seele im Allgemeinen auch für die Kollektive Seele gelten. Auf die
Entwicklung von Individuum und
Kollektiv treffen die gleichen physischen, vitalen und mentalen
Bewusstseinsebenen zu, und Sri Aurobindo spricht auch immer wieder vom
„kollektiven Leben“, „kollektiven Verstand“ und „kollektiven Willen“. Die Nation hat so wie das Individuum einen dreifachen Körper: sthūla, den Grobstofflichen Körper; sūkṣma, den Feinstofflichen Körper; kāraṇa,
den Kausalen oder Spirituellen Körper.[22] „Oberste Regel und Ursache des individuellen
Lebens ist das Streben nach eigener Selbstentwicklung. Bewusst, halb-bewusst
oder mit dunkel unbewußtem Tasten strebt es immer und mit Recht nach
Selbstgestaltung, Selbstfindung, danach, in sich selbst Gesetz und Kraft des
eigenen Seins zu entdecken und zu erfüllen. Dies Ziel ist grundlegend, richtig
und unumgänglich. Denn trotz aller Einschränkungen und Vorbehalte ist das
Individium nicht nur das ephemere physische Geschöpf, eine zusammengesetzte und
sich wieder auflösende Form aus Mentalem und Körper, sondern ein Wesen, eine
lebendige Kraft der ewigen Wahrheit, ein sich selbst offenbarender Geist.
Gleicherweise ist oberstes Gesetz, oberster Zweck der Gesellschaft,
Gemeinschaft oder Nation, dass sie ihre eigene Selbsterfüllung sucht. Mit Recht
trachtet sie, sich selbst zu finden, in sich selbst Gesetz und Macht ihres
eigenen Seins zu erkennen und sie möglichst vollkommen zu erfüllen, alle
Möglichkeiten zu verwirklichen und das eigene, sich selbst offenbarende Leben
zu leben. Der Grund hierfür ist der gleiche. Denn auch sie ist ein Wesen, eine
lebendige Kraft der ewigen Wahrheit, eine Selbst-Offenbarung des kosmischen
Geistes und bestimmt, auf ihre Weise und nach ihrem Befähigungsgrad die besondere Wahrheit, Kraft und Sinnhaftigkeit
des ihr innewohnenden kosmischen Geistes darzustellen und zu erfüllen. Dem
Individuum entsprechend hat die Nation oder Gesellschaft Körper, organisches
Leben, moralisches und ästhetisches Temperament, ein sich entfaltendes
Mentales, eine hinter all diesen Zeichen und Kräften verborgene Seele, um
derentwillen diese existieren. Man könnte sogar feststellen, sie sei wie das
Individuum eher wesenhaft eine Seele, als dass sie eine besitze. Es ist, hat
sie sich erst einmal besonnen, eine immer bewusster werdende Gruppenseele, die sich immer mehr erfüllt, je mehr
sie ihr gemeinsames Handeln, ihre Mentalität und ihr organisches, sich selbst
darstellendes Leben entfaltet.“[23] In diesem Zusammenhang stellen sich zwei zentrale Fragen: Wie ist das
Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv? Und wie ist das Verhältnis
zwischen Nationskollektiv und Menschheitskollektiv?
Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv gibt
Sri Aurobindo folgende ausgewählte Antworten, die etwa dem Stand kurz vor
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entsprechen: Man beginnt am besten mit dem
Individuum, da wir von seiner Natur vollkommenere und bessere Kenntnis und
Erfahrung besitzen als von einem allgemeinen Seelen- und Lebensgefüge, und weil
Gesellschaft oder Nation, selbst in ihrem breiteren Rahmen, ein weiteres
zusammengesetztes Individualitätsgefüge, den kollektiven Menschen, bedeutet.
Die für das Individuum gefundenen Werte gelten wahrscheinlich auch für das
allgemeine Grundprinzip der größeren Ganzheit. Außerdem ist die Entwicklung des
freien Individuums, wie schon gesagt, die Grundbedingung für die Entwicklung
der vollkommenen Gesellschaft. Deshalb müssen wir vom Individuum ausgehen. Es
ist unser Führer und unsere Grundlage.[24] In den Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gruppe erscheint die
konstante Tendenz der Natur als Kampf zwischen zwei gleich tiefverwurzelten
menschlichen Tendenzen: zwischen Individualismus und Kollektivismus. Auf der
einen Seite stehen die beherrschende Autorität, die perfekte Organisation und
die hochentwickelte Macht des Staates. Ihm gegenüber stehen der ausgeprägte
Freiheitsanspruch, die persönliche Vollkommenheit und die Entfaltung der Kräfte
des individuellen Menschen. So stehen in dauernder Opposition einander gegenüber
die Idee des Staates, jener kleinen oder ungeheuer großen lebendigen Maschine,
und die Idee des Menschen, der immer bewusster hervortretenden und erleuchteten
Persönlichkeit, die „Gott im Wachsen“ ist. Dabei spielt die Größe des Staates
für das Wesen dieses Widerstreits keine Rolle und braucht es auch für seine
charakteristischen Erscheinungen nicht. Zunächst war es die Familie, der
Stamm oder die Stadt, die „polis“. Dann
wurde es die Sippe, die Kaste und Klasse, die „kula“, die „gens“. Heute ist es
die Nation. Morgen oder übermorgen kann es die ganze Menschheit sein. Gerade
auch dann wird die Frage offenbleiben nach dem Verhältnis zwischen dem
Einzelnen und der Menschheit, zwischen der aus ihrem Selbst nach Freiheit
strebenden Persönlichkeit und dem Kollektiv, das alles zu beherrschen sucht.[25] Solange die Menschheit noch nicht erwachsen ist, solange sie sich noch
entfalten muss und höherer Vervollkommnung fähig ist, kann es kein statisches
Allgemeinwohl geben, das unabhängig vom Wachsen der Individuen ist, die
zusammen das allgemeine Ganze bilden. Alle kollektivistischen Ideale, die in
unzuverlässiger Weise die einzelne Person unterdrücken wollen, haben in
Wirklichkeit einen statischen Zustand zum Ziel, ob dies ein jetzt schon
erreichter ist oder einer, den man bald zustande zu bringen hofft. In ihm muss
jeglicher Versuch zu einer ernsthaften Änderung dieses Zustandes als das
Vergehen eines ungeduldigen Individualismus gegen den Frieden, den gerechten
Ablauf der so wunderbar eingerichteten Gemeinschaftsordnung und gegen die
allgemeine Sicherheit angesehen werden. Immer ist es der Einzelne, der
Fortschritte macht und die Übrigen zwingt, auch vorwärtszugehen. Der Instinkt
des Kollektivs will dagegen ruhig in seiner feststehenden Ordnung verharren. Fortschritt,
Wachstum und die Verwirklichung umfassenderen Seins schenken nur dem Einzelnen
ein höheres Glücksgefühl. Dagegen fühlt sich das Kollektiv wohl in stabilem
Zustand und sicherem Behagen. Das muss auch so sein, solange Letzteres mehr
eine physische und wirtschaftliche Einheit ist als eine ihres Selbst bewusste Kollektive
Seele.[26] Diese Gruppenseele hat nicht das
Recht, das Individuum bloß als eine Zelle ihres Körpers zu betrachten, ein
passives Instrument ihres kollektiven Lebens und Wachstums. Wir werden der
göttlichen Wirklichkeit im Menschen und dem Geheimnis der menschlichen Geburt
nicht gerecht, wenn wir nicht sehen, dass jeder individuelle Mensch jenes
Selbst ist und das gesamte menschliche Potential in seinem Wesen enthält.[27]
Weiter mit Sri Aurobindos Worten: Eine spiritualisierte Gesellschaft
würde, wie es ihre spiritualisierten Individuen tun, nicht im Ich, sondern im Spirit
leben, nicht als ein kollektives Ego, sondern als Kollektive Seele. Diese
Freiheit von dem egoistischen Standpunkt wäre ihr erstes und wesentlichstes
Merkmal. Eine solche Befreiung von der Selbstsucht aber wird nicht, wie man
dies heute anstrebt, durch Überredung oder Zwang des Individuums zur Aufgabe
seines persönlichen Wollens und Strebens erreicht, durch Unterwerfung der
wertvollen und schwer erworbenen Individualität unter den kollektiven Willen,
unter Ziele und Selbstsucht der Gesellschaft, indem der Einzelne gezwungen
wird, seine Seele auf dem Altar dieses riesigen, gestaltlosen Idols
darzubringen. Denn dies wäre nur das Opfer eines kleineren Egoismus für einen
größeren – größer an Umfang, aber nicht notwendigerweise an Qualität und Wert.
Ein kollektiver Egoismus, der die Summe ist der vereinten Egoismen aller, kann
ebensowenig als Gott verehrt werden, denn er ist ebenso befleckt und oft als
Fetisch hässlicher, barbarischer als die Selbstsucht des Einzelnen.[28] Wie der Spirit und das Leben der Einzelnen ist, die ein Kollektiv
bilden, so wird auch der verwirklichte Spirit des Kollektivs und die Kraft
seines Lebens sein. Eine Gesellschaft, die nicht durch ihre Menschen, sondern
durch ihre Institutionen lebt, ist keine Kollektivseele, sondern eine Maschine.
Ihr Leben wird zu einem mechanischen Produkt und hört auf, ein lebendiges
Wachstum zu sein. Darum muss einem spirituellen Zeitalter das Erscheinen einer
zunehmenden Zahl von Individuen vorangehen, denen das normale intellektuelle,
vitale und physische Dasein des Menschen nicht mehr genügt, sondern die
erkennen, dass eine größere Entfaltung wahres Ziel der Menschheit ist, dass sie
diese in sich selbst zu verwirklichen und andere zu ihr zu führen haben und
dass sie diese Entfaltung zum anerkannten Ziel der Menschheit machen müssen.[29] Erst dann entsteht eine Art lebendige Religion der konstanten
Anerkennung der Heiligkeit der physischen Mutter, des Landes. Dazu kommt oft in
geheimnisvoller Weise die Verehrung der Nation als einer Kollektiven Seele.
Diese Seele lebendig zu erhalten, ist für jeden Menschen erste Pflicht und
erstes Bedürfnis. Er muss sie gegen Unterdrückung oder tödliche Verletzung
verteidigen. Wenn sie unter fremder Gewalt ist, muss er sie hüten, auf ihre
Befreiung und Wiederherstellung harren und dafür kämpfen. Siecht diese Seele
aber unter der Wirkung eines tödlichen spirituellen Leidens dahin, muss er sich
darum bemühen, sie zu heilen, sie wieder zum Leben zu bringen und am Leben zu
erhalten.[30]
Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nationskollektiv und
Menschheitskollektiv gibt Sri Aurobindo folgende ausgewählte Antworten, die
wiederum den Entwicklungsstand von 1938 repräsentieren: Die zentrale Frage lautet: ist die Nation, die größte natürliche
Einheit, die die Menschheit bis heute zu schaffen fähig war und durch die sie
ihr kollektives Leben sichern konnte, auch ihre letzte und endgültige Einheit?
Oder kann ein größerer Verband gebildet werden, ein Zusammenschluss, der viele,
wenn nicht die meisten Nationen umfasst und letztlich alle in seiner Totalität
zusammenhält?[31] Auf der gegenwärtigen Stufe des menschlichen Fortschritts
ist die Nation die lebendige kollektive Einheit der Menschheit. Imperien
existieren zwar, aber sie sind bis jetzt nur politische, noch keine wirklichen
Einheiten. Sie haben ihr Leben nicht von innen. Sie verdanken ihren Bestand
einer Gewalt, die den sie konstituierenden Elementen aufgezwungen worden ist,
oder einer politischen Zweckmäßigkeit, die von den konstituierenden Partnern
gefühlt oder hingenommen und von der Außenwelt begünstigt wurde.[32] Das Leben der Nationen wird sich früher oder später unter das Leben
eines größeren Kollektivs, z. B. eines geeinten Europas oder einer geeinten
Menschheit, unterordnen.[33] Die gesamte Menschheit kann als ein Kollektives Wesen
betrachtet werden. Aber dieses Wesen ist eine Seele und ein Leben, nicht nur
ein Mental und Körper. Jede Gesellschaft entwickelt sich in eine Art Unterseele
oder Gruppenseele dieser Menschheit und entfaltet ein allgemeines Temperament,
einen allgemeinen Charakter und Typ des Mentalen, entwickelt vorherrschende
Ideen und Tendenzen, welche ihr Leben und ihre Institutionen formen.[34]
Und weiter mit Sri Aurobindos Worten: Die Lösung liegt nicht in der
Vernunft, sondern in der Seele des Menschen, in seinen spirituellen Bestrebungen.
Nur eine spirituelle, eine innere Freiheit kann eine vollkommene menschliche Ordnung
schaffen. Eine spirituelle Erleuchtung allein, die der rationalen überlegen
ist, vermag die vitale Natur des Menschen zu erleuchten und ihr Eigenstreben,
ihre Widersprüche und Unstimmigkeiten auszugleichen. Eine tiefere Bruderschaft,
ein noch nicht gefundenes Gesetz der Liebe ist die einzig mögliche Grundlage
für eine vollkommene soziale Entwicklung. Diese Bruderschaft und Liebe aber werden
nicht aus den vitalen Trieben oder der Vernunft entstehen. Dann würden sie
entgegengesetzten Überlegungen und anderen feindlichen Instinkten begegnen und
von diesen abgelenkt werden. Sie werden auch nicht in der Natur des menschlichen
Herzens gefunden, das erfüllt ist von vielen anderen Leidenschaften, die sie bekämpfen
würden. Allein in der Seele des Menschen können sie ihre Wurzel finden: die
Liebe, die auf einer tieferen Wahrheit unseres Wesens gründet, die Bruderschaft,
oder besser gesagt, die spirituelle Kameradschaft, Ausdruck einer inneren
Erfahrung der Einheit. Denn es handelt sich um ein anderes Gefühl als das der
Bruderschaft in ihrem vitalen oder mentalen Empfinden, um eine ruhigere, mehr
dauerhafte treibende Kraft. Nur so kann der Egoismus schwinden und ein wahrer
Individualismus der einmaligen Gottheit in jedem Menschen sich aufbauen auf dem
wahren Kommunismus einer gleichartigen Gottheit der Menschheit, deren
eigentliche Natur die Einheit in der Vielfalt ist. Dieser Lösung kann der Vorwurf
gemacht werden, sie verlege das Ziel einer besseren menschlichen Gesellschaft
in eine weit entfernte zukünftige Entwicklung der Menschheit; denn sie besagt, dass
kein von der Vernunft geschaffenes System den individuellen oder kollektiven
Menschen verbessern könne. Eine innere Wandlung der menschlichen Natur, zu
schwierig, um von vielen erreicht zu werden, wäre hierfür notwendig. Ob dies
zutrifft, ist nicht sicher. Sicher aber ist, dass, wenn diese Lösung nicht die
richtige ist, es überhaupt keine Lösung gibt, dass, wenn dies nicht der Weg
ist, es überhaupt für die Menschheit keinen gibt. Denn die irdische Entwicklung
muss über den Menschen hinweggehen, wie sie über das Tier hinweggegangen ist.
Eine bedeutendere Art muss kommen, die fähig ist zu einer spirituellen Wandlung.
Eine Lebensform muss geboren werden, die dem Göttlichen näher ist. Jedenfalls
besteht keine logische Begründung für die Behauptung, eine solche Veränderung
könne sich überhaupt nicht anbahnen, nur weil ihre Verwirklichung nicht
unmittelbar möglich erscheint. Eine entscheidende Wendung der Menschheit zu dem
spirituellen Ideal hin, der Anfang eines stetigen Aufstiegs, einer Führung
hinauf zu den Höhen, sollte nicht für völlig unmöglich gehalten werden, auch
wenn die Gipfel zunächst nur von den wenigen Führern erreicht werden, weit
entfernt von den Spuren der Allgemeinheit. Ein solcher Anfang kann vielleicht
den Einbruch eines Einflusses bedeuten, der das ganze menschliche Leben in
seiner Ausrichtung sofort verändert und seine Möglichkeiten und sein ganzes
Gefüge für immer erweitern wird.[35]
Bevor wir näher auf die besondere Rolle der indischen Nation für die
spirituelle Entwicklung der gesamten Menschheit eingehen, wollen wir kurz die
wesentlichen Stränge der Geschichte Indiens vom Beginn der britischen
Kolonialherrschaft bis zur Unabhängigkeitserklärung zusammenfassen.[36]
Die britische Kolonialherrschaft begann im Jahr 1757, und Britisch-Indien wurde
1858 nach der Niederschlagung des Indischen Aufstands proklamiert. 1885 gründeten Hindus und Muslime
gemeinsam den Indischen Nationalkongress (INC), der zunächst nur mehr
politische Mitspracherechte für die einheimische Bevölkerung forderte. Wegen
des wachsenden Einflusses der Hindus im INC kam es 1906 zur Gründung der
rivalisierenden Muslimliga. Indischer Nationalkongress und Muslimliga
verfassten 1916 gemeinsam eine Erklärung mit Forderungen nach indischer
Unabhängigkeit. Diese wurde von der britischen Regierung im August 1917 mit
einer politischen Absichtserklärung beantwortet, Indien einen allmählichen
Übergang zur Selbstregierung zuzugestehen. In den Zwanzigerjahren des 20.
Jahrhunderts wurde die Hindutva-Bewegung mit dem
Ziel der Wiedererschaffung einer einzigen Hindu-Nation ins Leben gerufen. 1925 wurde Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) gegründet,
eine radikal-hinduistische, hierarchisch strukturierte Kaderorganisation, die auf den Prinzipien
der Hindutva basierte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs eskalierten die Feindseligkeiten zwischen
Hindus und Muslimen und schließlich stimmten auch Jawaharlal Nehru und Mahatma
Gandhi, die Führer des Indischen Nationalkongresses, der Teilung Indiens mit
Abtrennung der muslimischen Gebiete in Form eines neuen politischen Gebildes
„Pakistan“ zu, wie das von der Muslimliga gefordert wurde. 1947 wurden nahezu
zeitgleich Pakistan und Indien als Dominions im Rahmen des Britischen
Commonwealths unabhängig. In Kaschmir versuchten muslimische Freischärler, den
Anschluss an Pakistan zu erzwingen, weswegen der hinduistische Maharaja Indien
zu Hilfe rief und den Anschluss seines überwiegend muslimisch besiedelten Fürstentums
an Indien erklärte. Der Konflikt um Kaschmir führte letztlich zum Ersten
Indisch-Pakistanischen Krieg, der 1949 mit der de facto-Zweiteilung Kaschmirs unter Vermittlung der Vereinten
Nationen endete.
Laut Sri Aurobindo hat das Göttliche für den aktuellen Weltenzyklus Indien als Retter der Welt auserkoren.[37] Diese auf okkulter Ebene beschlossene Tatsache wurde vom Hindu-Mönch Swami
Vivekananda, der Ende des 19. Jahrhunderts Hinduismus und Yoga im Westen
bekanntgemacht hat, und Der Mutter bestätigt. Die überlieferte Geschichte
Indiens beginnt mit der vedischen Zeit der spirituell hoch entwickelten Seher.
Der Buddhismus u. Adi Shankaras[38] lebensverneinende Spiritualität – die Welt ist nur eine Illusion/Maya –
führten im Mittelalter zu einer langfristigen Schwächung der indischen Nation, die
in einen Zustand der Trägheit verfiel. Erst die muslimische Invasion bewirkte
eine Art Wiederbelebung, weil sie die Bevölkerung mit Dynamik nährte. Die im
15. Jahrhundert entstandene Sikh-Religion war ein erster Versuch der
Vereinigung von weltabgewandtem Hinduismus und weltzugewandtem Islam,
Spiritualität und Lebenskraft. Indien war bis vor 200 Jahren das reichste Land der Welt mit
einer nachhaltigen Wirtschaft ohne Umweltzerstörung und ohne Ausbeutung von anderen
Völkern und Ländern. Das zog Kolonialmächte an. Die Briten standen den Spaniern,
Franzosen und anderen, welche die indigene Kultur zerstörten, in nichts nach:
sie fabrizierten künstliche Hungersnöte mit Millionen von verhungerten Indern
und unterdrückten die indische Mentalität durch ein aufgezwungenes,
europäisches Bildungssystem.
Die Teilung des Mutterlandes im Jahr 1947 bezeichnete Sri Aurobindo als
eine schmerzvolle Verzögerung von Indiens spiritueller Entwicklung. Der erste
Schritt Richtung Teilung Indiens erfolgte bereits 1920, als sich Mohandas
Karamchand Gandhi
mit der Kampagne zur Erhaltung des Kalifats solidarisierte, was zur Abgrenzung
der indischen Muslimliga führte. Es bedeutete den Verlust des spirituellen
Fundaments der Unabhängigkeitsbewegung und den Beginn einer langen Phase der
Trägheit. Gandhis Verständnis von Spiritualität trug zu dieser fatalen
Entwicklung bei. Für ihn waren Schwäche und Armut spirituell, während Stärke
und Reichtum nicht spirituell waren. Deshalb strebte er den Sieg über die
britische Herrschaft durch Schwäche in Form von passivem Widerstand an. Gandhi
ging sogar soweit, dass er im Zweiten Weltkrieg Winston Churchill einen Brief
schrieb mit der Empfehlung, sich den Nazis zu ergeben und sie durch gewaltlosen Widerstand bzw. reine
Seelenkraft zu besiegen. So war es der ehemalige
Freiheitskämpfer Sri Aurobindo, der sich im Sinne einer dynamischen und aktiven
Spiritualität innerlich und äußerlich gegen die drohende Teilung des Landes
stemmte. Im März 1942 verhandelte
Richard Stafford Cripps im Auftrag der britischen Regierung mit der indischen
Nationalbewegung. Als Gegenleistung für eine weitere Zusammenarbeit mit
Großbritannien während der Dauer des Krieges sagte er dem Führer der indischen
Kongresspartei Gandhi und dem Repräsentanten der Moslemliga Ali
Jinnah die Entlassung Indiens in den Dominionstatus nach Japans
Niederlage zu, was auf die Unabhängigkeit direkt nach Kriegsende
hinauslief. Die indische Nationalbewegung lehnte dies ab, mit Ausnahme von Sri
Aurobindo, der den Vorschlag in einer Botschaft an Cripps willkommen hieß als
eine Gelegenheit, „die Indien geboten
wird, um seine Freiheit und Einheit selbst zu bestimmen, in vollständiger
Entscheidungsfreiheit zu organisieren und einen bedeutenden Platz unter den
freien Nationen der Welt einzunehmen“[39]. Sri Aurobindo entsandte sogar einen
Vertrauten nach Delhi, um die politischen Führer des Landes umzustimmen, fand
jedoch kein Gehör. Der Cripps-Vorschlag war die letzte Chance auf
Indiens Unabhängigkeit ohne Teilung, doch Gandhi ignorierte Sri Aurobindos Rat,
wodurch er nicht nur die Unabhängigkeit des Landes verzögerte, sondern auch für
dessen Teilung verantwortlich war.
Die Folgen des Kolonialismus wirken bis in die Gegenwart Indiens nach. Nach
der Unabhängigkeitserklärung hatte die politische Elite mit ausländischer oder
britischer Bildung eine kolonialistische Einstellung. So wurde Jawaharlal Nehru
von seinem Mentor Gandhi als erster Premierminister eingesetzt und nicht vom
Volk gewählt. Statt der demokratischen Einstellung des Dienens wurde die
kolonialistische Einstellung des Herrschens prolongiert. Die Verfassung war
ohne Authentizität, weil eine Collage von anderen Verfassungen, welche nichts
mit den Bedürfnissen des Volkes zu tun hatte. So wurden Verfassung und
Regierungssystem, beide ursprünglich zur Ausbeutung Indiens entworfen, von den
Briten übernommen. Die Regierungsmitglieder wurden indirekt durch die korrupten
Abgeordneten im Parlament gewählt. Die indische Mentalität will aber ihren
Führer, dem sie vertraut, direkt wählen können. So scheint Sri Aurobindos
Vorhersage, dass Indien durch die Erfahrung der parlamentarischen Demokratie
gehen müsse, um schließlich festzustellen, dass sie nicht zu ihm passe, in
Erfüllung zu gehen. Als die UNO Indien einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat
anbot, lehnte Nehru es mit dem Argument ab, dass niemand das friedliche Indien
angreifen und China es im Notfall verteidigen werde; daher solle China diesen
Sitz erhalten. Dabei hatte Sri Aurobindo politisch und spirituell dafür
gesorgt, dass Indien zuerst seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit
wiedergewinnt, damit es danach seine Seele finden kann, um seine Mission für
die Menschheit zu erfüllen. Doch nun wurde Pakistan, eine der Quellen des
weltweiten muslimischen Terrorismus, von den USA gegen Indien unterstützt.
Pakistanische Politiker und Militärs nähren die Angst und den Hass gegenüber
Indien, damit es nicht zu einer natürlichen Wiedervereinigung beider Länder
komme. Laut Der Mutter werden die USA eines Tages beginnen, statt Pakistan
Indien zu unterstützen. In einer veränderten Weltlage werde eine Föderation
aller ehemaligen indischen Territorien Indien-Pakistan-Bangladesch[40] gebildet, zuerst kulturell, dann wirtschaftlich, schließlich politisch.
Auch Sri Aurobindo hatte gemeint, dass Indien einen Prozess eines weiten
nationalen Yogas durchlaufen werde, in dem vielfältige Probleme zum Vorschein
kommen, die gelöst werden müssen, Möglichkeiten der Imitation von anderen, die
erschöpft werden müssen, damit es sein eigenes Dharma, d. h. sein inneres
Gesetz, finde. So suchten Sri Aurobindo und Die Mutter stets nach einer
geeigneten Führungsperson für Indien mit Qualitäten wie spirituelles Streben,
Bereitschaft zum Dienen und Vitalität. Die Mutter empfing die damalige
Premierministerin Indira Gandhi im Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry und
verlieh ihr die „Kraft eines Tigers“. Aber Indira Gandhi verschrieb sich in den
Siebzigerjahren dem Säkularismus, um Konflikte zwischen Hindus und Muslimen zu
vermeiden, und verließ damit den von Der Mutter empfohlenen spirituellen Weg
der nationalen Wiedervereinigung.
Erst der aktuelle Premierminister Narendra Modi von der 1980 gegründeten
hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP),
dem politischen Flügel der oben erwähnten Sangh-Bewegung RSS, zeichnet
sich wieder durch spirituelles Streben aus. Die Keimzelle des RSS ist das Shakha,
wo sich Mitglieder mehrmals am Tag oder pro Woche zu sportlichen Übungen und
ideologischen Schulungen treffen. Gegenwärtig existieren über 25.000 Shakhas im
gesamten Indien. Die Aktivitäten eines Shakha bestehen aus Yoga,
Wettkämpfen, eingehender Diskussion sozialer Themen, Gebeten zu Mutter Indien und einer pädagogischen
Unterweisung in Geschichte, Philosophie, Kultur und Ethik Indiens durch eine angesehene
vom Shakha-Koordinator ausgewählte Persönlichkeit. Nachdem die RSS anfänglich
ein parteipolitisches Engagement in der Demokratie ablehnte, gehört die
Schulung von Politikern inzwischen zu ihren Hauptaufgaben. Hindutva ist damit
eine Gegenbewegung zum säkularen Staatsmodell, das von Mohandas Gandhi als Lösung für die
religiösen Konflikte, hauptsächlich zwischen Muslimen und Hindus, gesehen wurde und heute in der Verfassung verankert
ist. Viele Hindus ebenso wie Nicht-Hindus, z. B. Muslime und Christen,
lehnen deswegen die Hindutva-Bewegung ab. Zu diesem inneren Konflikt gesellt
sich die Gefahr des aus dem Westen importierten Materialismus ohne spirituelle
Basis. Indien als bewusst werdende Kollektivseele steht vor der großen
Herausforderung, sein eigenes Dharma zu finden und auf dessen Basis sein
nationales Leben neu zu gestalten, um seine Rolle als Führer der Menschheit
auszufüllen.
Bei der Geschichte der Entstehung der albanischen Nation[41] als einer Kollektivseele denken wir vor allem an Themen wie Frage
der albanischen Ethnogenese, Skanderbeg, Osmanenherrschaft, Rilindja, Unabhängigkeitserklärung
und Londoner Botschafterkonferenz 1912/1913, Zogu-Herrschaft, Enver
Hoxha-Diktatur, Kosova-Frage, Kosova-Krieg 1998/1999 und Kosovas
Unabhängigkeitserklärung 2008. Wir wollen hier zusammenfassend nur auf das erste
Thema eingehen.[42]
Die drei Haupttheorien zur albanischen Ethnogenese sind: die Illyrische Theorie
der Abstammung des Albanischen vom Illyrischen bzw. der Autochthonie der
Albaner als Nachkommen der Illyrer; die Thrakische Theorie der Abstammung des
Albanischen vom Thrakischen bzw. der Zuwanderung der thrakischen Vorfahren; die
Balkansubstrat-Theorie der Abstammung des Albanischen weder vom Illyrischen
noch vom Thrakischen bzw. seiner Entwicklung aus einer anderen, unbekannten
altbalkanischen Sprache. Gemäß Joachim Matzinger hätten Untersuchungen in der Historischen
Sprachwissenschaft gezeigt, dass das Albanische gemeinsam mit dem Griechischen,
Phrygischen und Armenischen zum Balkanindogermanischen, einer indogermanischen
Subgruppe, gehöre. Diese vorhistorische Kommunikationsgemeinschaft in einem balkanischen
Konvergenzareal, dem wahrscheinlich auch die bekannten altbalkanischen Idiome
wie Illyrisch, Dakisch und Thrakisch angehört hätten, sei so benannt worden,
weil die Mehrzahl dieser Sprachen in historischer Zeit auf dem Balkan oder in
seiner geographischen Nachbarschaft bezeugt gewesen sei. Die Frage nach der
Herkunft des Albanischen verschiebe sich demnach auf eine noch viel frühere
Zeitstufe. Die Historische Sprachwissenschaft gebe eine zuverlässige
Antwort auf die Frage nach der Abstammung der Albaner und der Herkunft des
Albanischen. Die Albaner in ihren historisch dokumentierten Wohnsitzen seien
nach Ausweis der Toponymie Albaniens Zuwanderer aus dem inneren Balkan.[43] Der
albanische Sprachwissenschaftler, Übersetzer und Philosoph Petro Zheji[44]
hingegen meint, Albanisch sei die einzige überlieferte symbolische Sprache,
deren Symbole es ermöglichten, jedes Wort einer jeden Sprache zu zerlegen und
dessen motivierende Bedeutung herauszufinden. Wenn Zheji daraus schlussfolgert,
Albanisch sei die Muttersprache des Sanskrits und aller anderen Sprachen der
Welt, dann geht er zu weit, weil er sich nur auf die schriftlich überlieferte
Form des Sanskrits bezieht und den mündlichen Ursprung dieser Sprache aller
Sprachen nicht kennt. Albanisch mag eine nahe Verwandte des Sanskrits sein,
unter den lebenden Sprachen vielleicht seine nächste Verwandte. Aber Sanskrit
ist und bleibt die Mutter aller Sprachen. Doch in seinem zukunftsweisenden
spirituell-mystischen Ansatz einer neuen Wissenschaft liegt Zheji völlig
richtig und ist einer der westlichen Pioniere auf diesem Gebiet.
Wenn man die Geschichte der Inder und Albaner vergleicht, so entdeckt man
einige interessante Parallelen, die hier nur kurz angedeutet werden können. Sowohl Indien als auch Albanien haben eine jahrhundertelange koloniale
Vergangenheit. Weder Indien noch Albanien haben jemals ein anderes Land
angegriffen. In beiden Ländern untergraben Turbokapitalismus, Korruption, Brain-Drain
und der aus dem Westen importierte Materialismus ohne spirituelle Basis das
nationale Leben. Ibrahim Rugovas Gandhismus in Kosova führte in die
Sackgasse, weil die serbische Regierung auf eine gewaltsame Unterdrückung der
Unabhängigkeitsbewegung setzte. Die Befreiungsarmee von Kosova (UÇK) war der
Ausweg aus dieser Sackgasse, der Weg des unvermeidlichen Kampfes, wie er in der
Bhagavad Gita, dem heiligen Buch der Hindus, aufgezeigt wird. Die
Vergeltungsaktionen von UÇK-Kämpfern gegen Serben und Roma nach dem Krieg
bedeuteten allerdings das Verlassen des Pfads des legitimen Kampfes um Freiheit
und Unabhängigkeit. Der Hinduismus ist eine unorganisierte Religion der
Vielfalt in der Einheit und hat daher 5000 Jahre überlebt. Der indische Mystiker Sri Ramakrishna des 19. Jahrhunderts probierte
alle drei großen Weltreligionen – Hinduismus, Christentum und Islam – aus und fand
auf allen drei Wegen Gott. Auch Albanien ist ein Beispiel der jahrhundertelangen friedlichen
Koexistenz von Katholiken, Muslimen, Orthodoxen und Bektaschi. So wie die Inder
müssen auch die Albaner noch ihr eigenes Dharma, d. h. ihre eigene innere
Bestimmung finden. Dabei ist vor allem die spirituelle Avantgarde aller Konfessionen und erleuchteten Individuen zur
Schaffung von Lichtzentren der kollektiven Bewusstseinsentwicklung gefragt, so
wie einst die in der mystischen Tradition des Sufismus stehenden Bektaschi um
die Frashëri-Brüder die Vorreiterrolle für die Rilindja übernommen haben. Die
junge albanische Nation zeichnet sich durch eine große Vitalität aus. Aber
erst, wenn sie diese kostbare Lebenskraft nicht mehr in den Dienst des
kollektiven Egos stellt, sondern um das noch zu entdeckende kollektive Seelische
Wesen zentriert, kann sie ihre eingeborene und unverwechselbare Rolle für die
spirituelle Vereinigung Europas und der Welt spielen. Albanien und Indien
verbindet auch die Tatsache der Teilung der Nation. Was die jeweilige
Motivation betrifft, gibt es dabei einen fundamentalen Unterschied: die
indische Teilung erfolgte von innen aufgrund des Gegensatzes zwischen Hindus
und Muslimen; die albanische Teilung erfolgte von außen aufgrund der Abstimmung
der Großmachtinteressen. Pakistan und Bangladesch, das ehemalige Ostpakistan,
sind innerlich mit der indischen Seele verbunden, daher wird es früher oder
später zu ihrer Wiedervereinigung mit Mutter Indien kommen. Jeder Patriot fühlt
die Seele hinter seiner Nation, seinem Land. Man kann diese Kollektive Seele
wahrnehmen, aber nicht definieren, weil sie jenseits des Mentals liegt. Wenn
die Kollektivseele im Inneren existiert, dann sucht sie sich einen Weg der
Manifestation im Äußeren. Daher ist die zukünftige Entwicklung der Albanischen
Frage noch offen: werden wir nach zwei bis drei Generationen eine einzige
albanische oder eine albanische und eine kosovarische Nation haben? Falls
hinter den Kosovaren schon eine Kollektivseele zur Manifestation bereitsteht,
werden wir in einigen Jahrzehnten zwei albanischsprachige Nationen haben, so
wie es nach dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich der Fall
gewesen ist. Falls Kosova innerlich mit der albanischen Seele verbunden bleibt,
wird es auch da früher oder später zur Wiedervereinigung mit Mutter Albanien
kommen. Das Gleiche gilt für die restlichen mehrheitlich von Albanern
besiedelten Gebiete, welche an Albanien und Kosova angrenzen. Wenn es eine Seele
gibt, individuell und kollektiv, wovon hier ausgegangen wird, dann wird sie
eines Tages hervortreten und die Zügel des Handelns in die Hand nehmen. Dann
ist es nur mehr eine Frage der Zeit, von Jahrzehnten oder Jahrhunderten, bis
sich äußerlich – auf welche Art und Weise auch immer – zusammenfindet, was
innerlich seit jeher verbunden ist.
Um den Beginn des Vergleichs der Albanischen Frage mit der Indischen Frage
im Lichte des Integralen Yogas von Sri Aurobindo vertiefend weiterführen zu
können, müssen zuvor die relevanten Phasen der albanischen Nationsbildung im
Sinne des Bewusstseinswachstums der Kollektivseele und der Entwicklung ihrer
mentalen und vitalen Wesensteile unter Berücksichtigung der beschleunigenden
Beteiligung herausragender spiritueller Persönlichkeiten in langfristigen
Einzelstudien herausgearbeitet werden.
Veröffentlicht in: Die Sonne 11 (2020), Nr. 40, S. 8-11; Nr. 41, S. 9-14; Nr. 42, S. ?.
http://www.dielli-demokristian.at/de/ausgaben.html.
[1] Hier einige
der wichtigsten diesbezüglichen Publikationen: Eric Hobsbawm, Eric
(1991): Nations and Nationalism Since
1780: Programme, Myth, Reality. Cambridge University
Press. (dt.: Eric Hobsbawm, Eric
(1991): Nationen und Nationalismus,
Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt
am Main/New York: Campus.); Benedict Anderson,
Benedict (1983): Imagined Communities:
Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London:
Verso Editions. (dt.: Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines
folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein.); Ernest Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism. Ithaca: Cornell University
Press. (dt.: Ernest
Gellner, Ernest (1991): Nationalismus und
Moderne. Berlin: Rotbuch.); Hroch, Miroslav (2005): Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung
im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. (engl.: Hroch, Miroslav (2015): European Nations: Explaining Their Formation. London:
Verso.).
[2] Jung, Carl Gustav (1993): Die Archetypen und das kollektive Unbewusste.
Gesammelte Werke 9/I. Ostfildern: Patmos.
[3] Aurose,
Wolfgang J. (2014): Die Seele der Nationen. Evolution und Heilung. München,
Berlin: Europa Verlag.
[4] Siehe Wilber, Ken (1996): A Brief History of
Everything. Boulder: Shambhala; Wilber, Ken (1998): The Marriage of Sense and Soul: Integrating Science and Religion.
New York: Random House; Hawkins, David
Ramon (2003): I – Reality and Subjectivity. Sedona: Veritas; James,
William (1902): The Varieties of Religious Experience. New York/London: Longmans, Green & Co.
[5] Van
Vrekhem, Georges (2014): Über den Menschen hinaus: Leben und Werk von Sri
Aurobindo und Mutter. Grafing:
Aquamarin, S. 84 f..
[6] Sri Aurobindo Birth Century Library. Pondicherry:
Sri Aurobindo Ashram. Set
in 30 Volumes (SABCL);
The Complete Works of Sri Aurobindo. Pondicherry: Sri Aurobindo
Ashram. Set of 37 Volumes (CWSA); Collected Works of the
Mother (CWM). Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram. Complete edition in 17
Volumes; Mother’s Agenda 1951-1973 (1979-1983). 13 Volumes.
Institute de Recherches Évolutives; Georges Van Vrekhem, Georges (2014): Über
den Menschen hinaus: Leben und Werk von Sri Aurobindo und Mutter. Grafing: Aquamarin; Rishabhchand (1981): Sri Aurobindo: His Life
Unique. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram; Evolution Fast-forward, 3 parts: Part
1, Vision & Work of Sri Aurobindo & The Mother = https://www.youtube.com/watch?v=QpKxR5rCjyQ; Part
2, Integral Yoga of Sri Aurobindo = https://www.youtube.com/watch?v=1tFtHPA87ZM; Part
3, Parts of the Being & Planes of Consciousness
= https://www.youtube.com/watch?v=XLxfP9pG8yI.
[7]
Sri Aurobindo (1970): Letters on Yoga I. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram,
Kap. „The Purpose of Avatarhood“, S. 401-430; Van Vrekhem
(2014), S. 6-11, 55 f., 119-122, 126-136.
[8] Sri Aurobindo (2003): The Future
Evolution of Man. The Divine Life upon Earth. Compiled with a Summary and Notes
by P. B. Saint-Hilaire. Twin Lakes: Lotus Press. (alb.: Shri Aurobindo (2014):
Evolucioni i ardhshëm i njeriut. Jeta hyjnore në
Tokë. Vetëbotim; mit einer ausführlichen Einführung des Herausgebers und
Übersetzers Kurt Gostentschnigg in übersetzerische und terminologische Probleme
sowie in Leben und Werk des Autors.); The Psychic Being (1999): Soul: Its
nature, mission and evolution. Selections
from the works of Sri Aurobindo and The Mother. Twin Lakes: Lotus Press. (alb.:
Qenia Psikike (2014): Shpirti: natyra, misioni dhe evolucioni i tij. E përpiluar nga veprat e Shri Aurobindos dhe e Nënës. Vetëbotim;
mit einer ausführlichen Einführung des Herausgebers und Übersetzers Kurt
Gostentschnigg in übersetzerische und terminologische Probleme sowie in Leben
und Werk der Autoren.); Our Many Selves (2002): Practical
Yogic Psychology.
Selections from the works of Sri Aurobindo and the
Mother. Compiled with an Introduction by A.
S. Dalal. Twin Lakes: Lotus Press; CWSA, Vol. 25: The Human Cycle and
The Ideal of Human Unity.
[9] Siehe zu Folgendem Our Many
Selves (2002), S. xix-xxxv u. 11-103.
[10] Sri Aurobindo (1970): The Synthesis of Yoga. Pondicherry: Sri Aurobindo
Ashram, S. 395; hier und in der Folge vom Autor Kurt Gostentschnigg aus dem
Englischen ins Deutsche übersetzt.
[11]
Sri Aurobindo (1989): The Supramental Manifestation. Pondicherry: Sri Aurobindo
Ashram, S. 41 f..
[12] Sri Aurobindo (1970): The Life Divine. Pondicherry: Sri Aurobindo Ashram, S. 278 f..
[13] Ein Mensch, der sich um
Selbstverwirklichung bemüht, indem er Sadhana (Sanskr. Sādhanā) oder Yoga praktiziert.
[14] Sri Aurobindo (1970): Letters
on Yoga I, S. 244.
[15] Sri Aurobindo (1970): The Life
Divine, S. 946 f..
[16] Ebda, S. 944.
[17] Ebda, S. 944.
[18] Ebda, S. 733 f..
[19] Ebda, S. 550.
[20] Siehe zu Folgendem The Psychic
Being (1999), S. 3-44, und Our Many Selves
(2002), S. 79-103.
[21]
Der sichtbare physische Körper, der vom unsichtbaren physischen Körper, dem
Feinstofflichen oder Subtilen Körper, mit Energie versorgt wird.
[22] Rishabhchand (1981), S. 193.
[23] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S.
35; die deutschsprachigen Formulierungen folgen der Übersetzung Sri Aurobindo
(1992): Zyklus der menschlichen Entwicklung. Mirapuri.
[24] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S.
73.
[25] CWSA. Vol. 25: The Ideal of
Human Unity, S. 290 f.; die deutschsprachigen Formulierungen folgen der
Übersetzung Sri Aurobindo (1982): Das Ideal einer geeinten Menschheit. Gladenbach: Hinder u. Deelmann.
[26] CWSA. Vol. 25: The Ideal of Human Unity, S. 302.
[27] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 67.
[28] Ebda, S. 255.
[29] Ebda, S. 263.
[30] CWSA. Vol. 25: The Ideal of Human Unity, S. 562.
[31] Ebda, S. 587.
[32] Ebda, S. 304.
[33] CWSA. Vol. 25: Human Cycle, S. 57.
[34] Ebda, S. 210.
[35] Ebda, S. 220 f..
[36] Zur Geschichte Indiens siehe Daniélou,
Alain (2003): A Brief History of
India. Rochester: Inner Traditions; Reddy, Krishna
(2003): Indian History. New Delhi: Tata McGraw Hill; Robb, Peter
(2004): A History of India. London: Palgrave Mcmillan; Kulke, Hermann;
Rothermund, Dietmar (2006): Geschichte
Indiens. Von der Induskultur bis heute. München: Beck; Ludden, David
(2006): Geschichte Indiens. Essen:
Magnus; Mann, Michael (2005): Geschichte
Indiens vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh; Wilken,
Klaus (2009): Indien in
Geschichte und Gegenwart. Rostock: Baltic Sea Press.
[37] Zu den folgenden Ausführungen
siehe CWSA. Vol. 20: The Renaissance in India; CWSA. Vol. 35: Letters on
Himself and the Ashram. Autobiographical Notes.
[38] Ein indischer Philosoph und
Theologe, der um 800 n. Chr. die Philosophie des Advaita Vedanta begründete.
[39] CWSA. Vol. 35: Letters on Himself and the Ashram. Autobiographical Notes, S. 469.
[40]
Bangladesch ist der ehemalige Landesteil Ostpakistan und seit dem
Bangladesch-Krieg von 1971 unabhängig.
[41] Siehe dazu Skendi, Stavro (1967): The Albanian national
awakening, 1878-1912.
Princeton University Press; Bartl,
Peter (1995): Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Regensburg: Pustet; Hoxhaj, Enver (2006): Mythen und Erinnerungen der
albanischen Nation – Illyrer, Nationsbildung und nationale Identität. In:
Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik 20, S. 47–76; Clewing,
Konrad (2006): Religion und Nation bei den Albanern. Von Anspruch und
Wirkungsmacht eines Religionen übergreifenden Nationenkonzepts. In: Mosser,
Alois (Hg.): Politische Kultur in Südosteuropa. Identitäten, Loyalitäten, Solidaritäten.
Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 147-182; Clayer, Nathalie (2007): Aux origines du
nationalisme albanais: la naissance d'une nation majoritairement musulmane en
Europe. Paris: Karthala; Schmitt, Oliver Jens (2012): Die Albaner: Eine Geschichte zwischen
Orient und Okzident.
München: Beck.
[42] Siehe dazu ausführlich
Gostentschnigg, Kurt (2016): Die Diskussion der Frage der albanischen
Ethnogenese. Ein historischer Abriss. In: Eckehard Pistrick (Hg.):
Deutsch-Albanische Wissenschaftsbeziehungen hinter dem Eisernen Vorhang.
Wiesbaden: Harrassowitz. (= Albanische Forschungen 39), S. 51-74; Matzinger, Joachim (2009): Die Albaner als Nachkommen
der Illyrer aus der Sicht der historischen Sprachwissenschaft. In: Frantz, Eva
Anne; Schmitt, Oliver Jens (Hg.): Albanische Geschichte. Stand und
Perspektiven der Forschung. München: Oldenbourg, S. 13-36.
[43] Gostentschnigg (2016), S. 71 f..
[44] Zheji, Petro (2005-2006): Shqipja dhe Sanskritishtja. 1 dhe 2.
Tirana: Tertiumdatur; Zheji, Petro
(2015): Roli mesianik i shqipes: shembja e kullës së Babelit. Tirana: UET Press;
Zheji, Petro (2012): Libri i aforizmave. Tirana: Media Print.
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